Vor 12 Monaten konnten wir uns nicht vorstellen oder gar wissen, was der Virus wirklich mit uns als Individuum und mit unserer Gesellschaft machen würde. Viele waren zuversichtlich und glaubten an den Sieg der technologischen Welt über den winzigen Virus. Viele hatten und haben Angst – um ihre Gesundheit, aber auch um ihre wirtschaftliche Existenz.
Heute scheinen die Finanzmärkte die Krise schon überwunden zu haben. Dank Rekordsummen an staatlicher Unterstützung eilen die Börsen, voran die Tech-Aktien, immer neuen Höhen entgegen. Aber ist das real? Kann das sein? Sind wir schon längst in einer Blase angekommen, die bald zusammenbricht? Bevor wir hier weiter einsteigen, ein kurzer Blick auf die anderen Realitäten, die uns umgeben.
Der Ruf nach dem Staat als Retter
In der Welt der (Medien)-Aufmerksamkeit ereifern wir uns darüber, ob der Staat unsere Freiheit überhaupt begrenzen darf und wie der Staat jeden einzelnen von uns an erster Stelle retten und unterstützen und natürlich impfen soll. Surreal, was wir alles vom Staat erwarten. Es ist doch unser eigenes Leben. Wir sind doch selbst für uns verantwortlich.
Wir können doch nicht in jeder Situation nach einem Staat rufen, der uns hilft und uns unterstützt. Das ganze allzeit gerecht, sofort und ohne Fehler. Und das nur, weil es mit dem Virus eine neue Lebensrealität gibt, an die wir uns alle anpassen müssen. Jeder einzelne. Das ist unser Lebensrisiko – und auch unsere Chance!
Die Verteufelung des Wachstums
Unser gesamtes Weltbild sehnt sich nach Ruhe: Wir wollen auf einmal nicht mehr wachsen. Ein wachsendes Bruttosozialprodukt war für die Menschen nach dem zweiten Weltkrieg ein Garant für eine stetige Verbesserung der Lebensbedingungen. Mehr soziale Absicherung, bessere gesundheitliche Versorgung, mehr Urlaub und Freizeit. Mehr Lebensqualität.
Jetzt wird uns plötzlich bewusst, dass für 8 Milliarden Menschen kein Platz auf diesem Planeten ist. Das wir nicht alle in Urlaub fliegen und ein dickes Auto fahren können, wenn wir uns nicht selbst in die Luft jagen wollen.
Aber ist daran das Wachstum von Firmen schuld? Ist daran der Kapitalismus schuld?
Alles Biologische wächst, bis zum Untergang. Es ist unsere persönliche Aufgabe als Menschen, Wachstumsprozesse zu managen. Denn Wachstum ist Veränderung.
Wir Menschen tragen die Verantwortung dafür, Wachstumsprozesse und damit Veränderungen zu steuern. Auch wer nichts tut und einfach so weiter macht wie bisher, kann etwas falsch machen. Sich nach Ruhe und „Nicht-Wachstum“ zu sehnen, ist eine Utopie. Eine Welt mit 8 Milliarden Menschen ohne Kunstdünger und ohne Mobilität ist nicht möglich mit egoistischer Bequemlichkeit und unserer Sorglosigkeit!
Auf dem Weg zur nächsten Blase
Und jetzt – irgendwie noch mitten in der Krise – sehen wir sichere Zeichen für Übertreibungen und Blasen: Verdopplung von Hauspreisen in weniger als 10 Jahren, einige Aktientitel, die sich innerhalb von 12 Monaten verdreifachen, eine Kryptowährung Bitcoin, die sich von Rekordhoch zu Rekordhoch schwingt. Es ist das Opium, das uns die Staaten seit der Finanzkrise bei jedem Wehwehchen geben: Liquidität. Egal ob Finanzkrise 2007, Euro-Krise 2010, oder Corona-Krise 2020: Mehr Liquidität hilft immer.
Von der Kohäsion zum Hype
Denn auch in der Welt der sozialen Prozesse gibt es Wachstum. Oder zumindest den Prozess der Zunahme an Kohäsion innerhalb einer Gruppe. Wenn in einer Gruppe die Kohärenz zu groß wird, dann kommt es zu Übertreibungen – Hypes. Das passiert in der Finanzwelt, im Fußballstadion oder in den Bestenlisten von Büchern, Songs oder Filmen.
Diese Form der Zugehörigkeit, dieses dem Trend hinterherlaufen und die Aufgabe des Individuellen dabei empfinden wir als uneingeschränkt positiv. Wir haben diese Kohärenz bei Mode oder den Single-Charts sogar als Menschheit kultiviert. Wir fühlen uns wohl als Teil einer Gemeinschaft, in der alle das Gleiche wollen wie wir. Das hilft uns, eine Balance in unserem Menschsein zu finden: eine Mischung dieser beiden Ur-Antriebe zu Autonomie und zu Gruppenzugehörigkeit, die der Quell fast aller unserer menschlichen Aktionen und Anstrengungen sind.
Wir haben diese Zerrissenheit kultiviert. Im Fußballstadion will und darf ich zur mächtigen Gemeinschaft der Fans dazugehören. Beim Nörgeln über Steuergerechtigkeit, den Chef oder den Lehrer lege ich Wert darauf, ein Individuum zu sein, dessen Rechte geschützt werden müssen.
Liquidität – das neue Opium des Volkes
Und im Finanzsystem kennt diese Kohärenz scheinbar keine Grenzen. Obwohl wir sehen, dass wir seit über 10 Jahren Opium in Form von Liquidität verabreicht bekommen, machen wir alle fröhlich mit. Genau wie zu Zeiten des neuen Marktes in den 2000er Jahren kaufen auf einmal alle Aktien. Vergessen ist der Schmerz der Volksaktie Telekom, an der man als langfristiger Anleger noch nie etwas verdienen konnte, weil es nach dem Hype im Februar 2000 nur noch nach unten ging.
Es ist unsere Gier, die diesen Markt macht und antreibt, nicht das böse Finanzsystem oder die Kapitalisten. Anstatt unser Opium als Medizin zu nehmen und unser Geld für Dinge auszugeben, die wir morgen nicht mehr brauchen, kaufen wir damit Aktien oder Bitcoins. Und dann fragen wir uns: Könnte das eine Blase sein?
Die Musik spielt solange, wie wir daran glauben. Solange wir unseren Wunsch nach Zugehörigkeit nicht mit Fußball oder einer Kegeltour befriedigen, sondern mit der Gier und Hoffnung auf noch höhere Kurse oder Hauspreise, solange werden die Kurse steigen.
Allerdings ist diese Anlagestrategie ein logisches Schneeballsystem. Geld auf dem Konto hat erst derjenige, der wieder verkauft und den Staffelstab an den nächsten weitergibt. Anstatt sich über den Gewinn aus dem Verkauf zu freuen, sind wir aber ab diesem Zeitpunkt nicht mehr mit dabei und müssen zusehen, wie die anderen auf dem Papier der Kurse immer reicher werden. Bis die Musik aufhört zu spielen. Leider kommen dann nur wenige zum Ausgang. Die meisten Anleger verlieren dann viel. So wie im neuen Markt.
Und wenn die Blase platzt?
Die Musik kann aus vielen Gründen aufhören zu spielen: Der Staat gibt uns nicht mehr genug Geld; wir fangen an, es für andere Dinge auszugeben – oder eine noch größere Krise kommt um die Ecke und zeigt ihr Gesicht. Oder die Gruppen-Kohärenz nimmt ab und wir glauben ganz einfach nicht mehr daran, weil wir auf einmal ein Einsehen haben, dass wir unsere Medizin zum Zocken ins Spielkasino mitgenommen haben. Wahrscheinlich, aber viel banaler: aus Angst, uns morgen weniger kaufen zu können, hören wir plötzlich auf, die Medizin überhaupt noch anzurühren. Ja, die uralte Angst aus der Geschichte vor der Inflation.
Und so gilt auch in dieser Welt der sozialen Systeme: Alles wächst bis zum Untergang. Unser Vertrauen, unsere Gier, unsere Sorglosigkeit – nur damit wir mit dabei sind. Unsere Hoffnung, dass alles für uns Wichtige so bleibt oder sich so weiterentwickelt, wie wir es haben wollen, ist eine Illusion. Auch in der Welt der sozialen Systeme müssen wir die Veränderung selbst managen. Das schmerzt meistens.
Aber auf unserer Schulter sitzt irgendein gemeiner Optimierer und fragt sich nach dem Optimum des Ausstiegs: Heute, oder in sechs Monaten oder besser erst in zwei Jahren?
Die Antwort auf diese Fragen gebe ich gerne in einem persönlichen Gespräch.