Arbeit 4.0: Lebenskonzepte in Zeiten der digitalen Ich-Zentrierung

5. September 2018

Generation X, Y, Z – alle sind wir Kinder unserer Zeit, aber vor allem sind wir Menschen mit denselben Grundbedürfnissen wie Anerkennung sowie mit Ängsten und Sehnsüchten. Ich denke nicht, dass es sinnvoll ist, Menschen in Generations-Schubladen zu stecken und ihnen Lebenseigenschaften zuzuweisen.

Die Generationen unterscheiden sich vor allem über die die Art und Weise, wie sie es schaffen, den Spagat zwischen dem Ich-Sein und der Gemeinschaft im eigenen Leben zu lösen. Die gemeinsamen Ausprägungen solcher Ansätze finden sich vielleicht innerhalb einer Generation vermehrt, aber sicher auch in anderen Generationen.

Weg von engen gesellschaftlichen Konventionen

In den Erziehungs- und Lebenskonzepten der 1950er und 1960er Jahre standen die allgemeinen gesellschaftlichen Zwänge noch weit mehr im Vordergrund: damals hat man noch etwas gemacht, weil die Nachbarn oder andere Menschen im eigenen Umfeld ein abweichendes Verhalten missbilligen würden. Diese gesellschaftlichen Zwänge sind heute in erheblich geringerem Umfang vorhanden.

Was in den 1960er Jahren als Widerstand gegen die etablierte Gesellschaft, den vorherrschenden Konformismus und den Kommunismus begann, hat sich in den folgenden Jahren und Jahrzehnten zu einer vollkommenen Ich-Zentrierung weiterentwickelt.

Zur bedingungslosen Individualität

Das Individuum und Individualität stehen im Zentrum des Universums. Übrigens ganz anders als in der Chinesischen Kultur, in der überhaupt nicht zwischen „ich“ und „wir“ unterschieden wird, man immer im Verbund seiner Familie lebt und darin in gewisser Weise auch gefangen ist.
Wir haben in der westlichen Kultur das Individuum über tradierte Werte gestellt. Klar hat das Individuum ein Recht auf gleichgeschlechtliche Ehe und klar ist die Gleichheit zwischen Mann und Frau unerlässlich.

Aber wird die Orientierung, der Halt, die Balance zwischen dem eigenen Ich und der Gesellschaft bzw. Gemeinschaft einfacher, nur weil es immer mehr individuelle Entfaltungsmöglichkeiten gibt?

Die Schattenseiten der Ich-Zentrierung

In der Arbeitswelt wird sichtbar, wohin uns Individualität – also die totale Fokussierung auf den Einzelnen – bringt: Es herrscht Leistungsdruck. Alle bewerten uns. Wir werden mit Zahlen messbar und vergleichbar gemacht. Leisten wir mehr oder weniger als der Kollege im nächsten Büro?

Inzwischen haben wir mit Scoring-Mechanismen Teile der Bewertung sogar schon an Computer ausgelagert.

Der Versuch, sich diesem Strudel mit Work Life Balance zu entziehen, offenbart dabei nur die individuelle Ohnmacht. Diejenigen, die es schaffen eine klare Linie zu ziehen, verdeutlichen damit ihre individuelle Stärke und verurteilen so (mehr oder weniger ausdrücklich) alle anderen, denen die Abgrenzung zwischen Arbeit und ihrem individuellen Leben weniger gut gelingt.

Als ultimativer Maßstab für unsere persönliche individuelle Leistungsfähigkeit steht die einzig wahre ökonomische Messgröße: Das Geld. Dabei wird deutlich: Teamleistung entzieht sich der Bewertung und hat irgendwie auch keinerlei Bedeutung in der Welt individueller Karrieren.

Das Streben nach Glück

Der Versuch der Vereinbarung dieser verschiedenen Parameter und Kräfte mündet im heute vorherrschenden Lebensziel: Alle streben nach Glück. Glück ist erstmal ein recht flüchtiges, ganz persönliches Gefühl. Für Glück brauche ich kein Gegenüber, keine Gemeinschaft. Glück kann ich empfinden, wenn ich ein Buch lese oder mit dem Fallschirm aus einem Flugzeug springe.

Glück kann – zumindest für eine beschränkte Zeit – digital erzeugt werden, indem man Menschen vor Bildschirme setzt und mit Aufmerksamkeit-fressenden Algorithmen in Form von Computerspielen, Facebook oder Instagram versorgt. Das aktuelle Gesellschaftsbild passt zu unserem Digital-Status, denn wir sind in der Lage, uns in der digitalen Welt mehr davon zu verschaffen.

Aber was haben wir als Gesellschaft von vielen glücklichen Menschen? Die Biologen und Psychologen haben uns doch schon längst erklärt wie schwer es ist, Glück über einen langen Zeitraum hinweg zu empfinden.

Nützlich-Sein als neues Lebenskonzept

Dabei könnten wir mit einer kleinen gedanklichen Änderung unsere Gesellschaft und unser Arbeitsleben auch in der digitalen Welt wieder auf die Spur bringen: Was wäre, wenn wir statt nach Glück danach streben würden, nützlich zu sein?

  • Nützlich-Sein ist kein hormoneller Zustand, der sich über den Endorphin-Wert in unserem Blut bestimmen lässt.
  • Nützlich-Sein ist vage und entzieht sich der direkten Messbarkeit und damit auch erstmal einer digitalen Bewertung.
  • Nützlich bin ich, wenn andere mich dafür halten – es geht also um einen menschlichen und damit sozialen Kommunikationsprozess.
  • Aber auch ich selbst kann davon überzeugt sein, dass ich etwas Nützliches getan habe, oder erstrebe.
  • Wenn ich den Eindruck habe nützlich zu sein, gewinne ich damit persönliche Zufriedenheit.
  • Nützlich kann ich im Team mit anderen sein – ich kann gemeinsam mit anderen diesen Zustand erreichen.

Wenn wir nützlich sein wollen, dann müssen wir unsere individuellen Ansprüche und Möglichkeiten an der einen oder anderen Stelle zurückschrauben und sie dem Nutzen für unsere Gruppe, unsere Familie, unserem Team oder unserer Gesellschaft unterordnen.

Nützlich-Sein hat etwas mit Wertschätzung zu tun und zahlt auf das „Werte“-Konzept ein. Es geht aber deutlich über rein gesellschaftliches Engagement im Sinne eines Ehrenamtes und auch über den Erwartungsdruck gesellschaftlicher Konventionen der 1950er Jahre hinaus, weil es mehr Facetten und damit auch mehr Freiheiten bietet.

Ich bin davon überzeugt, dass Nützlichkeit ein persönliches Lebenskonzept für viele werden kann, die sich zunächst in Work Life Balance und Individualismus geflüchtet haben, und dann erkennen, dass uns diese Konzepte auf lange Sicht weder zufrieden noch glücklich machen.

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