Die neue Rolle des Staates in unserer digitalen Gesellschaft

13. November 2019

Meckern über unseren Staat ist gesellschaftsfähig und gehört mit vielen Nuancen zum guten Ton: ein ineffizientes Monster, das viel zu viel Steuern von unserer harten Arbeit einbehält und keine Ahnung von unserer digitalen Zukunft hat. Auch unser System ist defekt und der Kapitalismus und unsere kranke Wachstumswelt zerstören die Zukunft unserer Kinder und vielleicht sogar schon unsere eigene.

Aber was genau können wir von unserem Staat erwarten?

  • Die Neoliberalen fordern vom Staat möglichst wenig Einmischung, damit der Markt alles regelt.
  • Die sozial Orientierten plädieren für eine gerechtere Umverteilung, damit die Kluft zwischen arm und reich nicht immer grösser wird.
  • Und die Umwelt-Fokussierten erwarten vom Staat strengere Auflagen für die Wirtschaft, das Verbot des Flug- und des Individual-Verkehrs und am besten das Verbot von Fleisch.

Die digitale Konsumgesellschaft und ihre vielfältigen Anforderungen

Was soll der Staat – oder die Regierung, oder die Politik – denn machen, wenn wir, das Volk, in großen Gruppen so unterschiedliche Dinge wollen?

Wie wollen wir dieses Dilemma lösen in einer Demokratie mit Wahlzyklen von vier Jahren und einer digitalen Konsumgesellschaft, die Aufmerksamkeits-orientiert handelt und den Schutz von Minderheiten über die Lösung von unseren Grundsatzproblemen stellt?

Wie wollen wir diese Herausforderungen meistern, ohne dass jeder von seinem Status quo abrückt und sich auf Einschnitte einlässt?

Ich habe darauf keine umfassende Antwort. Aber ich weiß, dass eine wesentliche Voraussetzung für die Lösung unserer aktuellen Herausforderungen ein anderes Verständnis von Staat ist.

Warum nicht mal ein wenig stolz auf unseren Staat und seine Leistungen?

Ich wünsche mir eine Gesellschaft und Mitbürger, die stolz sind auf Dinge, die unser Staat und unsere Gesellschaft für uns tun:

  • Wir leben in einer politischen Union (EU), die von unserer Wirtschaft die Abschätzung von möglichen Folgen ihres Handelns und ihrer Produkte verlangt (in Bezug auf unsere Umwelt und auf uns Menschen). Anders als in den USA, wo die Freiheit des Handelns im Vordergrund steht und der Geschädigte den Nachweis führen muss.
  • Der Staat übernimmt in vielen Bereichen die Jahrzehnte der Grundlagenforschung, die dann später von Unternehmen in relativ kurzen Zyklen in marktfähige Produkte umgesetzt werden kann.
  • Der Staat stellt uns ein funktionierendes Rechtssystem zur Verfügung.
  • Der Staat investiert in Startups oder sichert Gründungen ab, ohne eine Risiko-Prämie dafür zu erhalten.

Den Staat ausnutzen – ein Volkssport

Doch ich sehe, dass dieser Staat ausgehöhlt wird und wir sehen viele Handlungsweisen, die dem Staat schaden als völlig normal an:

  • Internationale Konzerne sparen Steuern im großen Maßstab, indem sie Schlupflöcher finden.
  • Wir sehen es als Sport an, im kleinen und mittleren Bereich Steuern zu sparen.
  • Wir versuchen aus dem System heraus zu pressen, was geht und lassen keinen Cent liegen.
  • Der Staat sourct in vielen Bereichen Aufgaben wie Verwaltung oder konzeptionelle Leistungen (Stichwort: unsere Unternehmensberater) an Unternehmen aus, die den eigenen Profit maximieren, aber nicht der Gesellschaft dienen.
  • Der Staat hat einen guten Ruf als Arbeitgeber bei Beamten. Echte Talente und Visionäre arbeiten für High-Tech Unternehmen.
  • Es ist die oberste Maxime, die Staatsquote zu minimieren. Dahinter steckt die Idee, dass Staatsausgaben per Definition Verschwendung sind.
  • Der Staat hat dem Finanzsystem die Aufgabe der Alters-Absicherung übertragen und versucht, sich aus dem Rentensystem zurückzuziehen (obwohl er die Risiken faktisch über die sozialen Sicherungssysteme behält).
  • Der Staat übernimmt Risiken in Finanz- (System-) Krisen ohne hierfür eine ausreichende Honorierung zu erwarten.

Der Staat ist ein seelenloses und gesichtsloses Hilfs-Monster, nach dem alle schreien, wenn wir es brauchen. Aber ansonsten wollen wir dieses Ungetüm nicht wahrnehmen, sehen, hören oder spüren – geschweige denn wertschätzen.

Warum unser Wertesystem überholt ist

Aber unsere Situation ist noch vertrackter: Wir arbeiten als Gesellschaft mit einem völlig veralteten Wertesystem, das wir seit mehr als 100 Jahren nicht an die aktuellen Gegebenheiten angepasst haben.

Wir erkennen zwar nicht nur bei unserer Erde als Biotop, dass mit Mutter Erde etwas aus dem Ruder läuft. Auch bei unserem globalen Wirtschaftssystem zeigen uns die immer heftiger werdenden Krisen, dass etwas im System nicht rund läuft. Wir diskutieren viel; aber bisher haben wir für diese klaren Krisen-Boten im Umwelt- und Finanzsystem noch keine Antworten, auf die wir uns einigen konnten.

Mariana Mazzucato hat in ihrem Buch Wie kommt der Wert in die Welt? eine klare Analyse gezeichnet. Wir leben heute in einer Preis-geführten Welt. Wir bestimmen den Wert nicht mehr über den wahren Wert oder die Produktion, also das, was wir Menschen mit unserer Arbeitskraft an Wert hinzufügen. Wir bestimmen den Wert über den Preis am Markt. So bestimmt nicht die Werttheorie den Preis, sondern die Preistheorie den Wert.

Und das liegt vor allem daran, dass unsere Wert-Theorie über 200 Jahre alt ist und Prämissen nutzt, die in der heutigen Zeit ganz klar nicht mehr gelten: Das neoklassische Modell geht von einem Grenznutzen aus als Gleichgewicht zwischen Produzent und Käufer. Voraussetzung für dieses Gleichgewicht ist eine Knappheit der Ressourcen und ein perfekter Informations-Stand aller Marktakteure.

Genau diese Voraussetzungen sind in den riesigen globalen Märkten und der digitalen Welt sicher nicht mehr gegeben. Dennoch finden wir kein neues Modell, sondern halten an dem alten neoklassischen Ansatz fest. Alles weitere sind Folge-Erscheinungen, die uns immer weiter in die falsche Richtung treiben.

Gesucht: ein Staat und eine Gesellschaft mit Visionen

Wir brauchen keine revolutionäre neue Einstellung zu Eigentum, wenn wir anerkennen, dass persönliches Eigentum immer nur möglich ist in einem kollektiven Rahmen. Und egal wie hart wir arbeiten: das, was wir uns erarbeiten, ist nur möglich in einem gesellschaftlichen kollektiven Kontext. Ohne einen Staat und Gesellschaft und ohne Rahmenbedingungen müssten wir fürchten, den nächsten Morgen nicht zu erleben.

Diese Sicherheit können wir nicht für Geld kaufen, sondern sie wird durch unsere Gesellschaft und unseren Staat geschaffen. Das sollten wir mit mehr Dankbarkeit anerkennen.

Eine Veränderung am Umgang mit unseren Bio-System Erde und ein neues Finanzsystem können wir realistisch nur mit einer neuen Sicht auf unseren Staat (als Repräsentanz des Kollektivs) erlangen.

Ich bin davon überzeugt, dass wir einen Staat mit einer Vision benötigen. Einer Vision, der wir folgen können. Eine Vision, die uns trägt und es uns verschmerzen lässt, auf Dinge zu verzichten. – Eine Vision, die uns eint, anstatt uns über den besten Weg zu streiten

Ähnliche Gedanken hat auch Harald Welzer, der als Mitbegründer und Direktor der Stiftung futurzwei. Stiftung Zukunftsfähigkeit auf der Suche nach einem neuen Narrativ ist, der uns hilft in die Zukunft zu gelangen.

Wahrscheinlich ist das alles eine Nummer zu groß. Aber vielleicht können wir ja im ganz Kleinen beginnen, unseren Staat ganz einfach zu respektieren und wert zu schätzen.

Und nach und nach die Missstände beseitigen, die einen aktiven Staat verhindern. Vielleicht hilft uns das als Gesellschaft, eine neue Vision für eine digitale Zukunft zu formen, die unsere Biosphäre respektiert und ein neues Werte- und Finanzsystem hervorbringt.

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