Verpackt in einen Thriller vom Meister der Gesellschaftsanalyse – ein zweifelhaftes und brutales Lesevergnügen
Marc-Uwe Kling war früher mal mit seinem Känguru als Comedian unterwegs. Dann hat er uns mit dem Science-Fiction Roman “QualityLand” vor 8 Jahren gezeigt, dass er mehr Technologieverständnis und Ahnung von Digitalisierung als ein Großteil der Manager in der deutschen Industrie und des Mittelstandes hat.
Jetzt hat er sich mit “Views” in ein neues Genre gewagt, und einen Thriller veröffentlicht. Augenscheinlich handelt es sich um eine Mordgeschichte in Berlin mit BKA-Einbindung. In Wirklichkeit liefert er eine bitterböse Abrechnung mit der woken Multikulti-Welt, in der es für niemanden mehr Halt und Orientierung gibt.
Die Charaktere der Protagonisten sind als BKA-Beamte, Redakteure und Professoren eigentlich fest in der Mitte der Gesellschaft verankert. Die Komik entsteht nicht durch Überzeichnung, sondern die Banalität der Situation und die Absurdität der woken gesellschaftlichen Erwartungen, in die Kling seine Protagonisten geraten lässt.
Mit einzigartigem Gespür lässt er die Systemlogik in Justiz und unseren Polizeiapparat auf menschliche Ängste, Unsicherheiten und unser politisches System mit lauten Rechtsradikalen, den lauten woken Linken und der schweigenden Mitte prallen.
Nachdem ein 16-jähriges Mädchen spurlos verschwindet, wird kurze Zeit später ein Video veröffentlicht. Wäre der von Kling so faszinierend verwobene aufgezeigte Fall kein Vergewaltigungsfall, würde man zwischendurch häufiger schmunzeln. Und natürlich geht es auch um das Überschreiten dieser Pietäts-Schwelle, denn dadurch wird die Absurdität der weiteren Ebene des Thrillers ohne Happy End noch größer. „Views” ist schon bis hier eine klare Empfehlung für alle potenziellen Leser, die in umfassender Form eine Vorstellung bekommen wollen, wie unsere Gesellschaft über die Ränder hinweg von Extremisten ausgehöhlt wird. Das rechte Gedankengut scheint uns durch die Radikalität abstoßender. Aber Kling schafft es auf faszinierende Weise, die subversiven Folgen unserer woken Umerziehung der letzten Jahre, die durch Presse und die erpresste Offenheit gegenüber allem und jedem Gedanken geschieht, einzufangen. Es ist die Beliebigkeit und die damit einhergegangene und verursachte Haltlosigkeit, die uns Menschen immer mehr zu schaffen macht. Eine Haltlosigkeit und Unsicherheit zum Handeln im Alltag, die auch bisher gefestigte Menschen erfasst und langsam, aber sicher mürbe macht.
Achtung – Spoiler Stufe 1
Wer jetzt weiterliest, bekommt Hinweise zu einem wesentlichen Twist – in jedem Fall einer komplett weiteren Ebene des Thrillers. Das Buch/Hörbuch bleibt dennoch spannend, das Ende wird nicht verraten!
Auch in “Views” geht es um Technologie. Um KI und die Frage: Ist es möglich, Videocontent glitch-frei zu produzieren? Was passiert mit uns Menschen und unserer Gesellschaft, wenn wir weder statischen Bildern noch Videos noch vertrauen können, weil sie in beliebiger Form künstlich erzeugt werden können? Was geschieht mit uns, wenn die Echtheit zu keinem Zeitpunkt mehr bewiesen werden kann? Dies ist keine Fiktion, sondern heute schon technisch alles möglich und bekannt.
Was ist, wenn wir Fake-Content geschickt mit realen Ereignissen verweben? Was ist, wenn wir nicht mehr wissen, ob Verbrechen tatsächlich geschehen sind, oder in Wirklichkeit anders geschehen sind? Was ist, wenn ein Video eben keinen Beweis mehr darstellt, gerade weil es beliebig erzeugt werden kann?
Was ist, wenn politische Akteure und politisch extreme Gruppen anfangen, sich dieser Möglichkeiten zu bedienen und für ihre eigenen Zwecke zu missbrauchen?
Genau darum geht es eben auch in Klings Thriller: Ein emotionales Gewaltverbrechen, das genutzt wird, um einen Umsturz anzuzetteln. Aber nicht in einer Bananenrepublik, sondern in Deutschland. Es geht darum, dass die Grenze zwischen realen Fakten und KI-erzeugtem Content verschwimmt. Beweis und Gegenbeweis sind nicht mehr auf Echtheit zu überprüfen. Staatliche Justiz wird ersetzt durch eine öffentliche Beweisführung durch Bilder.
Bilder tun ihre reale Wirkung an realen Menschen, auch wenn unklar ist, ob es Fakt oder Fake ist. Werden Staat und Gesellschaft damit in Zukunft noch autark und miteinander funktionieren können, wenn zweifelhafte Menschen und Gruppen KI in so perfider Form nutzen?
Eine weitere Dimension – Spoiler Stufe 2
Aber Kling setzt noch einen drauf. Durch seine einzigartige Erzählweise macht er uns klar, dass es neue stärkere Mächte gibt, die staatliche Gewalt, politischen Druck, Revolution und Umsturz übertreffen: Die banale Steuerung unserer Aufmerksamkeit über Views und Clicks auf Content-Plattformen.
Macht, Krieg, Revolution und Umsturz waren über viele Jahrtausende das ultimative Ziel von Politik, Gruppen, Herrschern oder einzelnen Menschen. All das geschah mit Hilfe der Steuerung und Kontrolle von Kommunikation. Von jeher sollen Kommunikation und Inhalte etwas bewirken. So funktioniert auch die Intention einer abgefangenen Nachricht, eines manipulierten Textes, die Veröffentlichung einer geheimen Information, die Umdeutung einer Information in einen anderen Kontext.
Mit Social Media ist die neue Währung von Information und Kommunikation Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit als Massenphänomen ist das Ziel an sich, denn man kann damit über die Millionen von Clicks Geld verdienen. Was die Information und Kommunikation bewirkt oder verursacht, ist dafür unerheblich. Die Auswirkung der Information in der Realität ist quasi ein nicht beabsichtigter Kollateralschaden.
Ungünstig für uns als Menschheit ist dabei nur, dass extreme politische Positionierungen mehr Aufmerksamkeit bekommen – ein echtes Problem für unsere Demokratien in einer digitalen Welt der Aufmerksamkeit.
Das Fazit ohne Spoiler
Ich empfehle das Hörbuch uneingeschränkt – es ist mit Marc-Uwes Stimme nochmal wirksamer als der bloße Text. Trotz des großen Ernstes kann man diesen Thriller genießen und sich an vielen Stellen ein Lächeln nicht verkneifen.
Es sind gut investierte fünf Stunden, die einen zwar nicht im klassischen Sinne unterhalten, aber zum schaudernden Nachdenken und Schmunzeln anregen. Kling bringt uns zum Nachdenken über unsere Gesellschaft, unsere Systeme, Institutionen und – was nicht vermeidbar ist – uns Menschen, die wir eben nicht bereit sind für die neuen Möglichkeiten von KI in Kombination mit der Steuerung unserer Aufmerksamkeit via Social-Media-Streams.