Die Vorhersage von Wendepunkten (Inflection Points) ist für Technologiefirmen essenziell, um das Timing für Investitionen, Entwicklungen und den Marktzugang zu bestimmen. Die Literatur ist voll von „den entscheidenden“ Wendepunkten in Branchen, Technologiebereichen oder unserer Gesellschaft. Und das auf sehr unterschiedlichen Zeitskalen von wenigen Monaten bis hin zu Jahrhunderten.
Der Buchdruck oder der Transistor stellen nach gängiger Meinung ebenso einen Wendepunkt dar wie das Ende von Moore‘s Law, die Entdeckung von CRISPR oder die rasant fallenden grünen Energiekosten.
Im Nachhinein ist die Bewertung einfacher, aber die Kunst ist, diese vorher hinzubekommen. Denn es geht um die Vorhersage einer nahen Zukunft auf Basis einer sehr genauen Analyse der Vergangenheit und der Gegenwart. Also eine Menge Arbeit, um die Daten, die für die eigene Technologie und das Geschäftsmodell relevant sind, zunächst zusammenzutragen (Get the Data right!). Und dann muss ja auch noch ein vernünftiges Modell für die Abhängigkeiten dieser Daten entwickelt werden.
Gefangen im linearen Modell
Wir Menschen sind sehr schlecht in diesen Prognosen, denn wir können die Zukunft eigentlich nur linear vorhersehen. Egal wie die tatsächliche Funktion einer Aufgabe aussieht, unser Gehirn wendet eine lineare Regression an.
Spätestens Covid hat uns gezeigt, dass wir exponentielle Funktionen faktisch nicht begreifen können, weil wir in unserem Kopf im linearen Modell gefangen sind.
Noch schwieriger wird es für uns Menschen, einen Wendepunkt vorherzusehen, also einen Richtungswechsel in einer Funktion!
Wendepunkt
In der Mathematik ist ein Wendepunkt ein Punkt auf einem Funktionsgraphen, an dem der Graph sein Krümmungsverhalten ändert: Der Graph wechselt hier entweder von einer Rechts- in eine Linkskurve oder umgekehrt. Dieser Wechsel wird auch Bogenwechsel genannt.
Genau um diese Bestimmung des Wechsels geht es!
Bei vielen Technologien, insbesondere im Consumer-Umfeld, ist es spannend, die Funktion der Adaption einer Technologie auf der Zeitachse vorherzusagen. Anfang der 2000er Jahre haben wir uns zum Beispiel gefragt: setzt sich das Internet durch? Dauert es drei oder 20 Jahre, bis 50 Prozent der Konsumenten einen Internetzugang haben und die Technologie nutzen werden?
Der Wendepunkt ist in diesem Fall der Zeitpunkt, an dem die Adaptionsgeschwindigkeit nicht weiter steigt, sondern anfängt zu sinken. Der Zeitpunkt ist deshalb enorm wichtig, weil ab diesem Zeitpunkt nicht mehr von per se wachsenden Märkten ausgegangen werden kann.
Gut kalkuliert: Tesla und die Batterien
Auch die genaue Form von Preiskurven und die zeitliche Vorhersage können entscheidend über den Erfolg von Produkten sein. So ist es Teslas Geschick (neben all den vielen öffentlich diskutierten Aspekten), dass sie die Preis-Funktionen und Verfügbarkeits-Funktionen vor allem für Batterien sehr genau vorhergesagt haben. Als das Produkt Model S angekündigt wurde, war der Produktions-Preis der Batterie faktisch höher als der Preis des gesamten Autos.
Mit dem neuen direkten Vertriebsmodell und der aus der Smartphone-Welt übernommen Ankündigungs-Logik hat Tesla auf deutlich sinkende Preise nicht nur auf Basis von Stückzahlen gesetzt. Das hat Tesla deutlich besser hinbekommen als die europäischen und japanischen Hersteller von Elektro-Autos, die ihre angekündigten Modelle über einen Zeitraum von deutlich über 12 Monaten gar nicht liefern konnten.
Zwischen Technologie und Narrativ: Augmented Reality
Bei DeepTech Produkten wie in der Medizin oder im Weltraum-Umfeld sind die Variablen vielfältiger und die zu betrachtenden Funktionen komplizierter. Bei der nächsten Augmented Reality-Welle geht es nicht nur um den Preis für eine konsumententaugliche AR-Alltags-Brille. Auch das Gewicht, die Batterielaufzeit, die tatsächlich ausführbaren Funktionen (abhängig von der CPU-Power) sowie die Anpassbarkeit an die vorhandenen Sehschwächen der Konsumenten (Brillen) spielen eine wichtige Rolle in der zu betrachtenden Funktion. Und hinter all diesen Variablen stehen eine Reihe unterschiedlicher Technologien, die für das neue Produkt alle zusammenwirken müssen.
Wendepunkt-Bestimmung (Mathematik)
– Die zu untersuchende Funktion f(x) wird dreimal abgeleitet.
– Die zweite Ableitung wird gleich Null gesetzt und – sofern möglich – der x-Wert berechnet.
– Diesen x-Wert setzen wir – sofern möglich – in die dritte Ableitung ein.
– Es liegt ein Wendepunkt vor, wenn dieses Ergebnis ungleich Null ist.
– Um den zugehörigen y-Wert zu bestimmen, wird der x-Wert in die Funktion f(x) eingesetzt.
Am Beispiel Augmented Reality lässt sich noch etwas anderes verdeutlichen: Es wird sicher noch drei oder auch vier oder fünf Jahre dauern, bis solche AR-Brillen für jedermann Einzug in unseren Alltag halten. Aber das Feuer für Nischenmärkte mit klobigen Brillen für Spezial-Anwendungen hat Mark Zuckerberg schon 2014 mit dem Kauf von Oculus entfacht. Viel zu früh. Aber er hat damit einen Narrativ besetzt. Facebook hat bereits 2014 klar gemacht, dass es seine Zukunft in der AR-Welt sieht. Und das, obwohl Google 2012 die Glass 1 in den Sand gesetzt hat, weil Technologie eben nicht alles ist. Es war klar, dass es noch Jahre dauern wird, aber Facebook brauchte einen Narrativ.
Und genau solche Wendepunkt-Narrative bringen die Inflection Points in die Nähe von „nur“ Geschichten. Zwar können Geschichten mit dazu beitragen, Märkte schneller kommen zu lassen, aber sie können keine ganzen Märkte schaffen. Wendepunkte sind an Daten nachweisbare und nachvollziehbare Ereignisse. Und es ist viel Arbeit, sich diese Modelle zu erarbeiten und weiterzuentwickeln.
Die großen Plattformen sind Meister der Wendepunkt-Analyse
Die großen amerikanischen Plattform-Anbieter sind Meister in dieser Fertigkeit. Sie sind meist über einen Wendepunkt groß geworden. Aber inzwischen haben sie es verstanden, sich von Inflection Point zu Inflection Point zu hangeln. Und das erklärt auch ihr wahnsinniges Wachstum.
So ist Apple in der ersten Ära der Personal Computer entstanden, hat das Internet und Mobile Devices genutzt, um in den Olymp aufzusteigen und will mit Sicherheit an der zukünftigen AR-Welt partizipieren.
Bei Amazon als First Wave Internet Company sind es unter anderem die Bereiche Robotic und Cloud Computing, die die heutige Größe ermöglicht haben. Und Jeff Bezos Nachfolger Andy Jassy bemüht sich, in der Welt von Künstlicher Intelligenz (AI) und Machine Learning (ML) eine gewichtige Rolle zu spielen.
Mein Fazit: Wendepunkte vorherzusagen ist die Kür für Unternehmer und Investoren. Und es lohnt sich. Also ran an die Arbeit, denn es geht um Daten und Modelle und nicht um das nette Erzählen von Geschichten.