In der öffentlichen Wahrnehmung und in politischen Diskussionen hat sich ein Bild des auf stetigem Wachstum basierenden Kapitalismus festgesetzt. Und der frisst sich in nicht mehr nachhaltiger Form in immer mehr Bereiche hinein, wenn man ihn nicht bändigt oder stoppt, oder zumindest am Wachstum hindert. Von Anhängern der Degrowth-Bewegung wird sogar eine Korrelation zwischen BIP-Wachstum und CO2-Produktion als Legitimierung der Forderung nach einer BIP-Wachstumsbeschränkung verwendet.
Der Kapitalismus wird in diesem Bild einem System mit Prinzipien und Regeln gleichgesetzt wie der Kommunismus oder Leninismus. In einer Welt mit vielen Unsicherheiten zwischen Krieg und Nachhaltigkeit wird bezweifelt, dass Wachstum ein sinnvolles Ziel an sich ist, nur um das kapitalistische System zu befriedigen und am Leben zu halten.
Professor Werner Plumpe zeichnet im Gespräch mit Daniel Stelter ein deutlich anderes Bild des Kapitalismus (Starker Staat, BTO-Podcast #150 vom 7.8.22). Für Plumpe ist der Kapitalismus kein System, sondern ein Konzept, welches uns Menschen ermöglicht, in so zahlreicher Form auf diesem Planeten mit beschränkten Ressourcen zu existieren. Er liefert eine anderen Erklärungs- und Definitionsversuch:
Kapitalismus ist eine Wirtschaftsform, mit der Massenproduktion ermöglicht wird, um Güter in preiswerter Form für einen breiten Markt zur Verfügung zu stellen. Kapitalismus benötigt damit größere Mengen Kapital, um Produktionskapazitäten aufzubauen und dann die Waren in preiswerter Form einer breiten Masse an Konsumenten zur Verfügung zu stellen.
In diesem Bild und Narrativ ist klar, dass das Konzept des Kapitalismus in stetiger Form an die aktuellen Gegebenheiten von Technologie, Markt und Produktionsmöglichkeiten angepasst werden muss. Es wird damit ersichtlich, dass Staaten als Organisator der Regeln für unser Zusammenleben ständig darauf achten müssen, dass der Kapitalismus in möglichst gerechter Form im Spiel der Märkte funktioniert.
Da wir Menschen unser eigenes absolutes Populations-Wachstum bis jetzt nicht bremsen konnten, und dies nach aktuellen Prognosen auch erst ab dem Jahr 2080 schaffen werden, ist der Kapitalismus nach Plumpes Ansicht das Wirtschaftskonzept, welches uns dieses Wachstum ermöglicht. Unabhängig von der gewählten Staatsform, wie wir zum Beispiel an China sehen.
Braucht dieses Konzept von Kapitalismus Wachstum, um zu funktionieren?
In einem Blogbeitrag auf „Klement on Investment“ hat Joachim Klement sich mit den Grundlagen der Wachstumsmodelle beschäftigt. Basis dieser Modelle ist eine konstante Steigerung des Produktivitätswachstums, zum Beispiel um 1 Prozent pro Jahr. Klement zeigt, dass über einen längeren Zeitraum seit Beginn der Industrialisierung und eben auch in Zeiten massiver Digitalisierung und enormer Technologisierung in den letzten 30 Jahren die Produktivitätszuwächse abnehmen.
Dies ist ein ernst zu nehmendes Problem für uns als Menschheit und die zu erwartende Stabilität unserer Wirtschaftssysteme. Denn da in den nächsten Jahren erst die Bevölkerung in den westlichen Ländern abnimmt und im Laufe dieses Jahrhundert dann auch die Bevölkerung in allen anderen Teilen der Erde anfängt zu schrumpfen, lässt dies nur ein sinkendes BIP erwarten.
Wenn Volkswirtschaften nicht mehr wachsen, dann werden auch Werte wie Aktien oder andere Güter nicht mehr wachsen. Rechnet sich in einer solchen Welt noch ein Investment in die Zukunft? Haben Branchen wie VC und PE dann noch Sinn und können Renditen erwirtschaften?
Joachim Klement hat einen interessanten neuen Artikel von Thomas Philippon aufgespürt. Der hat herausgefunden, dass man durch Verwendung einer linearen Produktivitätsfunktion, anstatt der in den heutigen Modellen üblichen exponentiellen Produktivitätsfunktion, das kontinuierliche Abnehmen der Wachstumszuwächse erklären kann.
Mit immer gleichen Zuwächsen bei der Produktivität (Linear) kann nur noch ein immer geringer werdendes Wachstum erzeugt werden. Damit ließe sich die beobachtete Verlangsamung des Wachstums weltweit erklären.
Diese Erkenntnis würde und müsste zu einem völlig neuen Verständnis von Wachstum führen. Denn es würde auch bedeuten, dass Zinsen immer weiter sinken und Sparen sich eigentlich nicht mehr lohnt. Das stetige Sinken der realen Zinsen über einen längeren Zeitraum von über 100 Jahren zumindest ist von mehreren Autoren wie Ray Dalio, Bridgewater bereits aufgezeigt worden.
Sorgt in Wirklichkeit die Geldmenge für Wachstum?
Unsere Geldmenge M3 im Euroraum und auch die US-Geldmenge wächst seit Jahrzehnten immer weiter. Wenn wir uns mit dem Thema Geldmengen-Wachstum beschäftigen, dann meist mit dem Zusammenhang zwischen Geldmenge und Inflation. Früher konnten die Bundesbanken die Geldmenge nur indirekt steuern, weil die Schöpfung des Geldes bei den Banken erfolgt. Die Bundesbanken können Einfluss nehmen vor allem über die aktive Gestaltung ihrer Kommunikation (Forward Guidance) und Offenmarktgeschäfte, mit denen sie die Zinsen beeinflussen. (Ständige Fazilitäten und Mindestreserven stellen in den aktuellen Zeiten eher untergeordnete Mittel dar.)
Mit der letzten Finanzkrise 2008 sind dann in den USA und Europa Programme zum Aufkauf von Vermögenswerten hinzugekommen, mit denen die Zentralbanken nun in direkter Form in die Geldmengen eingreifen. Dies hat sich durch die Corona-Maßnahmen und in Europa durch den europäischen Aufbaufonds nochmal verstärkt.
Das Thema Inflation beschäftigt uns aktuell massiv, weil vor allem die Waren aus dem Energiesektor durch die drei System-Störungen der letzten zwei Jahre (Corona, Lieferketten, Krieg) massiv gestiegen sind und damit die Warenkorb-Inflation massiv getrieben haben.
Die Mahner an den Märkten stellen den Zusammenhang her, dass die reale Inflation Geldmengenwachstum abzüglich Wirtschaftswachstum ist und beziehen sich dabei auf den schottischen Philosophen David Hume und seine Quantitätstheorie.
Zumindest sieht man in dieser einfachen Betrachtung, dass das massive Geldmengenwachstum seit der Finanzkrise zu einer deutlichen Vermögenswerte-Inflation bei Aktien und Immobilien geführt hat. Diese Art von Inflation wird durch das Warenkorb-Modell nicht erfasst und führt dazu, dass sich Besitzer von Aktien und Immobilien reicher fühlen können als noch vor 12 Jahren.
Wir Menschen sind schon wundersame Tierchen, wenn wir über Jahre in großen Rudeln und Communities mit leicht unterschiedlichen Schattierungen auf Preisstabilität und Warenkorb-Inflation schauen und uns darüber freuen, dass eine offensichtlich höhere Geldmenge ja anscheinend gar nicht zu einer höheren (Warenkorb)-Inflation führt. Und parallel dazu genießen wir das Gefühl, jetzt irgendwie reicher zu sein, weil unsere Aktien- und Immobilien-Werte augenscheinlich gestiegen sind.
Vielleicht spielt es also gar keine Rolle, ob in Wirklichkeit die Geldmenge das Wachstum beeinflusst und ob es einen nachweisbaren Zusammenhang gibt. Vielleicht haben wir Menschen uns auch nur einen Wust aus Modellen und Theorien gebastelt, bei dem wir mit großer Sorge auf die Kennzahl Warenkorb-Teuerung schauen. Und zugleich mit großer Genugtuung auf die Teuerung, oder für uns positiv ausgedrückt die Wertsteigerungen, von Vermögenswerten wie Aktien und Immobilien.
Wer braucht also Wachstum, wenn nicht der Kapitalismus?
Wenn also der Kapitalismus gar kein System und Monster ist, das ständig auf neues Wachstum angewiesen ist, wer braucht dann also überhaupt das jährliche BIP-Wachstum?
Es sprengt den Rahmen dieses Textes, sich der Berechnung des BIPs auch nur oberflächlich zu nähern. Es gibt mehrere Berechnungsarten, die das statistische Bundesamt als Veröffentlicher unserer Zahlen anwendet. Die Berechnung wird von verschiedenen Ländern unterschiedlich durchgeführt. Die Berechnungsformen werden in allen Ländern regelmäßig (wenn auch unterschiedlich) angepasst.
Wir schauen also alle auf eine Zahl, die uns im Wesentlichen sagt, ob die Wirtschaft in einem Land wächst oder schrumpft. Wieso sollte man (in die Zukunft) investieren, wenn die Wahrscheinlichkeit über alles abnimmt, dass sich die Investition rechnet, weil ja die gesamte Wirtschaft schrumpft? Das BIP und der Ausblick für die grundsätzliche Entwicklung einer gesamten Wirtschaft sind das letzte Glied in der Kette eines hoffentlich faktenbasierten Business-Plans und Business-Modells, dass sich die Investition auch wirklich rechnen wird.
Ein positives BIP als Ausblick stützt also die These, dass alles grob so bleiben wird, wie wir es kennen und sich daher der spezifische Investitionscase, den wir gerade betrachten, auch wirklich realisieren lässt.
Physiker lächeln ja über Maschinenbauer, die sich für bestimmte komplexe Zusammenhänge einfache Frikkelfaktoren gebastelt haben: diese bilden in einem spezifischen Umfeld mit klaren Randbedingungen eine gute Näherung für die Beschreibung der Realität.
Wir scheinen uns mit dem BIP einen massiv subjektiven Frikkelfaktor geschaffen zu haben. Mit diesem vermitteln wir, ohne den Geltungsbereich zu kennen, ein positives Grundgefühl für eine weitere Investition in die Zukunft.
Und ja: Das Konzept des Kapitalismus braucht einen positiven Grundrahmen für eine neue Investition in Produktionsmittel, damit ein Konsum für viele zu einem besonders attraktiven Preis möglich wird.
Wenn wir also das bis heute sehr erfolgreiche Modell des Kapitalismus als Ermöglicher für einen höheren Lebensstandard für möglichst viele erfolgreich weiter entwickeln wollen, dann scheinen mir zwei Aspekte wichtig:
- Der Begriff des BIP als Gradmesser, dass es der Wirtschaft eines Landes so gut geht, dass wir ganz grundsätzlich weiter investieren können, sollte weiterentwickelt werden. Der aktuelle BIP-Begriff sollte von den Menschen, die sich um unseren Planeten sorgen und nach einfachen Erklärungen suchen, anders interpretiert werden. Das BIP ist faktisch kein Gradmesser für zerstörerisches Wachstum, sondern ein inzwischen sehr abstraktes KPI für den Grad der Intaktheit eines nationalen Wirtschaftssystems.
- Der Staat als demokratisch legitimierter Verwalter unserer Interessen war bisher die treibende Kraft neuer Regeln, um eine faire und gerechte Marktwirtschaft zu schaffen und aufrecht zu erhalten. Mit Modellen wie Impact Investing oder Impact Entrepreneurship gibt es Ansätze, wie Unternehmer, Mitarbeiter und Verbraucher in Zukunft eine Forward Guidance erzielen können, ohne dass es weiterer Interventionen und staatlicher Gesetze bedarf.