Wie schaffen wir es, immer mehr Menschen dazu zu bewegen, sich aktiv an der Mitgestaltung einer lebenswerten Gesellschaft von morgen zu beteiligen? Derzeit lassen sich mindestens folgende Gruppen unterscheiden, die ihre Meinung zu aktuellen Technologie-Entwicklungen äußern:
- Die Untergangs-Propheten, die uns vor den Gefahren von Kapitalismus, Gentechnik und Digitalisierung warnen.
- Die Gestalter, die Chancen im sinnvollen und massvollen Umgang mit Technologien sehen.
- Die Kapital-Tech-Nationalisten, die uns anspornen, weil Deutschland, Europa oder die westliche Welt untergehen werden, wenn wir uns nicht endlich anstrengen und daher den Anschluss verpassen.
- Und die Wissenschaftlicher, die Teilaspekte unseres Planeten und Menschseins augenscheinlich gut analysieren, aber keinerlei Botschaft haben, was wir denn mit diesem Wissen tun sollen. – Hauptsache, sie bleiben auf neutralem wissenschaftlichen Grund.
Wer sich nicht klar in eine dieser Schubladen stecken lassen möchte, legt sich eigentlich mit allen an und muss befürchten, dass er mit seinen Äußerungen nichts erreicht.
21 ungewohnte Betrachtungen unseres Lebens mit Technologie
Dennoch hat Yuval Noah Harari genau das getan. In seinem aktuellen Buch „21 Lektionen für das 21. Jahrhundert“ beschäftigt er sich in 21 Kapiteln mit Themen, die in dieser Betrachtungsweise und Konstellation selten in einem Buch zu finden sind. Seine Gedanken sind gebündelt in fünf Bereiche:
- Die technologische Herausforderung (Desillusionierung, Arbeit, Freiheit, Gleichheit)
- Die politische Herausforderung (Gemeinschaft, Zivilisation, Nationalismus, Religion, Zuwanderung)
- Verzweiflung und Hoffnung (Terrorismus, Krieg, Demut, Gott, Säkularismus)
- Wahrheit (Nichtwissen, Gerechtigkeit, Postfaktisch, Science-Fiktion)
- Resilienz (Bildung, Sinn, Meditation)
Umfassende Sichtweisen mit globalem Kontext
Seine Analyse zu den technologischen Herausforderungen unserer Zeit und unserer Gesellschaft in Bezug auf Digitalisierung, Superintelligenz und Genmanipulation werden für viele, die sich schon damit beschäftigt haben, nicht viel Neues bringen. Dennoch sind sie wichtige Elemente für die sehr umfassende Sichtweise von Harari und das Konzept des Buches.
Sehr spannend sind die Kapitel über unsere politischen Herausforderungen. Geben sie uns doch eine Einschätzung der europäischen Situation von außerhalb und setzen unsere europäischen Herausforderungen in den Kontext zur amerikanischen Politik, den Krisenherden im Nahen Osten sowie den Entwicklungen in China. In diesen Kapiteln wird auch klar, warum wir aus der Geschichte eine Menge lernen können, aber dennoch einen Schritt weiter gehen müssen.
Warum nur eine gemeinsame Zivilisation uns retten kann
Unsere Herausforderungen sind global und daher kann es in sich keine Antworten mehr in Teilgemeinschaften mehr geben – gleich ob diese national oder religiös organisiert sind. Unser aller Ziel auf diesem Planeten kann nur noch eine gemeinsame Zivilisation sein.
In den Sammelkapiteln „Verzweiflung und Hoffnung“, „Wahrheit“ und „Resilienz“ wandelt sich der Sprachstil und die Themen. Harari beschäftigt sich zunehmend mit uns Menschen an sich und der Frage, wie und warum wir handeln. In den letzten drei Kapiteln geht es dann um jeden einzelnen als Individuum, um viele persönliche Eindrücke von Harari und um uns selbst und unsere Sichtweise.
Während die Ersten jetzt rufen, dass sie keine Autobiografie und auch kein Lehrbuch über Selbstfindung und Meditation kaufen wollten, kann man sich auch auf die Idee des Buches einlassen. Harari zeigt uns auf, was wir aus seiner Sicht als Rüstzeug für die nächsten Jahrzehnte benötigen, um unsere Gesellschaft zu einer globalen Gemeinschaft zu machen:
- Eine einzige weltweite Zivilisation, die in verantwortungsvoller Form mit Technologie umgeht.
- Eine Zivilisation, die neue Konzepte für Gemeinschaft jenseits von Nationalismus und Religion entwickelt.
- Eine Zivilisation, die ihre Schwächen und Konstruktionsfehler kennt und mit Nichtwissen, mangelnder Gerechtigkeit und Fake-News umzugehen lernt.
- Und jeden einzelnen von uns, der sich bewusst macht, was für wunderbare Geschöpfe wir mit unserem Ich und selbst sind, und wieder mehr in sich hereinzuschauen lernt, obwohl die Welt uns herum unsere Aufmerksamkeit ständig von uns selbst wegzieht.
Unbequeme Perspektiven, die uns zum Handeln bringen sollen
Es ist diese ungewöhnliche Mischung aus Rationalität und Spiritualität, die dieses Buch ausmacht. Und es sind genau diese Widersprüche, die wahrscheinlich allen von uns ein wenig seltsam vorkommen, weil den meisten von uns eine dieser Betrachtungsweisen näher ist und wir daher wegen der ungewöhnlich umfassenden Sichtweise ein Magengrummeln haben.
In diesem Sinne ist Harari mit seinem Buch die umfassendste Analyse unserer Situation als Menschheit gelungen. Aber es ist eine Analyse und eben ein Aufruf zur aktiven Auseinandersetzung mit all diesen Facetten des Menschseins. Jetzt ist es an uns, daraus eine neue, lebenswerte Gesellschaft zu machen.
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Yuval Noah Harari
21 Lektionen für das 21. JahrhundertC.H.Beck Verlag 459 Seiten, 24,99 Euro
Kindle-Ausgabe 19,99 Euro