Wie erschließen wir uns den Weltraum?

13. März 2024

Critical Mass: Zukunftsvision für eine unabhängige menschliche Gesellschaft im Weltraum?

Die Menschheit ist mit dem Starship System von Elon Musk nun in der Lage, 100t mit einem einzigen Start in den Weltraum zu befördern. Startups wie Isar Aerospace arbeiten daran, ein immer breiteres kommerzielles Angebot an immer preiswerteren Launch-Möglichkeiten zu schaffen. Aber schon im Roman Delta-V hat uns Daniel Suarez klar gemacht, dass all diese Fortschritte nicht ausreichen werden, um als Menschheit tatsächlich den Weltraum zu erobern; ihn als Lebens- und Wirtschaftsraum nutzbar zu machen. 

Für diesen nächsten Schritt müssen wir uns die Ressourcen im Weltraum direkt erschließen und einsetzen. Millionen von Tonnen Material aus der Gravitationssenke der Erde in den Weltraum zu befördern, kann und darf nicht das Ziel sein. Um wirklich eine Weltraum-Gesellschaft aufzubauen, müssen wir die Ressourcen von Asteroiden, Planeten und den Monden zugänglich machen. Wir müssen lernen, wie wir mit neuen Technologien neue Kreislauf-Konzepte für die benötigten Rohstoffen schaffen, wie für Energie, Wasser, Sauerstoff, Kohlenhydrate, Proteine sowie die zur Produktion von Lebensräumen erforderlichen Materialien.

Die Vorgeschichte

Aktuell lernen wir, die neuen irdischen Möglichkeiten zu nutzen, die uns preiswertere Transportsysteme ins All für die Bereiche Kommunikation und EO-Daten (Earth Observation) bieten, sowie neue Materialien und Wirkstoffe einzusetzen. Daniel Suarez entführt uns nun mit seinem zweiten Band „Critical Mass“ in die Zeit danach: In Form eines Near-Future-Romans zeigt er eine schon bald mögliche Welt der echten gesellschaftlichen Expansion in den Weltraum. Den ersten Band „Delta V“ empfehle ich, unbedingt vorab gelesen zu haben. 

Kann es eine menschliche Gesellschaft ohne ein erdzentriertes Weltbild geben?

Wenn wir in anderen SciFi-Romanen von Mond- oder Marskollonien träumen, dann in der Regel in einem erdzentrierten System mit irdischen Supermächten und Staaten, die auch Teile des Weltraums erobern. In SciFis mit Aliens geht es dann eher um das menschliche Verhalten mit bzw. gegen eine oder mehrere andere Spezies.  

Mit Critical Mass entsteht eine ganz andere und neue Vision, in der wir uns eine menschliche, aber formal von der Erde unabhängige Gesellschaft vorstellen. Diese Gesellschaft ist in der Lage, sich ohne ständige Versorgung von Ressourcen von der Erde zu entwickeln. Suarez beschreibt ein theoretisches Szenario, wie ein solches interstellares menschliches Gesellschaftssystem entstehen könnte. 

Dazu bedarf es eines von der Erde und Staaten unabhängigen Finanzsystems. In seiner Welt ist es Blockchain-basiert und durch wertvolle Ressourcen gedeckt, die im All abgebaut werden. Ob aus diesen Anfängen tatsächlich einmal von irdischen Ressourcen und Territorien unabhängige, planetare Staaten entstehen, oder ob es von irdischer Kontrolle unabhängige Wirtschaftszonen bleiben, lässt der Autor offen. Es lohnt aber sicher als (theoretische) Diskussion.  

Lösen wir zukünftig mit extraterrestrischen Ressourcen die Probleme unseres Planeten?

In der Fiktion von Suarez lösen wir mit einem von der Erde und den irdischen Ressourcen unabhängigen Finanzsystem sogar unser CO2-Problem. Das war mir zunächst ein wenig zu viel, weil ich mir inzwischen sicher bin, dass wir mit grünen Utopien unseren Planeten bestimmt nicht vor dem Untergang bewahren werden. 

Wenn man in diesen Gedanken etwas weiter einsteigt, hat diese Fiktion vielleicht doch eine interessante Erkenntnis für einen möglichen Lösungsraum. Unabhängig davon, was wir uns wünschen. Kann es überhaupt eine rein irdische Lösung geben, mit der wir den individuellen Egoismus sowie den Systemüberlebenswillen von unabhängigen Staaten mit mehreren Milliarden Menschen so lenken können, dass wir diesen Planeten nicht über seine Belastungsgrenzen hinaus ausbeuten? 

Ich bin da inzwischen skeptisch, zumindest vorsichtig und empfinde den Gedanken von Suarez als wichtigen Impuls, dass wir ein System außerhalb der planetaren Grenzen (Geld-Fiktion, Ressourcen, Vertrauen) benötigen, um irdische Probleme neu zu denken. 

Detailreichtum und ein positives Unternehmerbild

Ob man den vielen und ausschweifenden technischen Beschreibungen von Robotern, Cobots und dem Ressourcenmodell hinter der unabhängigen Finanzwährung Lunar etwas abgewinnen kann oder nicht, das hängt sicherlich vom eigenen Nerd-Faktor ab. Ein interessanter Blick in eine nur ein wenig weiter technologisierte Welt ist es allemal. 

Die größte Kritik an dem Zukunftsmodell von Suarez kommt von denen, die auch in unserer heutigen realen Welt Unternehmern skeptisch gegenüberstehen: Werden wirklich Technologie-Unternehmer mit außerirdischen Ressourcen und einer liberalen Wirtschaftsordnung die Menschheit in eine positivere Zukunft führen? 

Warum nicht? – lautet meine Gegenfrage. Ich bezweifle, dass eine steigende Staatsquote und technologischer Dirigismus eine hinreichend neugierige und offene Gesellschaft schaffen – eine schlechte Basis zumindest, um neue Dinge auszuprobieren und zu gestalten. Dann muss es doch erlaubt sein, in einem Roman eine solche Utopie zu skizzieren, die sowieso anders kommen wird, aber immerhin einen positiven Impuls für Veränderung und neue Perspektiven schafft. 

Ich habe „Critical Mass“ genossen und schätze die vielen gut recherchierten Technologien und die konkreten Ideen zu Auswirkungen auf unser morgiges Leben. Das macht die eine oder andere Unzulänglichkeit bei der Erzählweise allemal wett. 

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Daniel Suarez
Critical Mass
Rowohlt Verlag, 576 Seiten, 18,00 Euro
E-Book 12,99 Euro

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