Macht ist ein missverstandenes Konzept, weil wir es vor allem in statischer Form mit Persönlichkeit, Geld, Gewalt oder sogar Korruption von einzelnen in Verbindung bringen. In ihrem Buch Power for All zeichnen die Professorinnen Julie Battilana und Tiziana Casciaro ein anderes Bild. In unseren heutigen westlich geprägten und entwickelten Gesellschaften haben Individuen oder Gruppen Macht, die die Möglichkeit nutzen, das Verhalten anderer zu beeinflussen. Dies geschieht vor allen Dingen durch Kommunikation.
„Um Macht über jemand anderen zu haben, muss man zunächst über etwas verfügen, das die andere Person schätzt. Alles, was ein Mensch braucht oder haben will, ist eine wertvolle Ressource. Die Ressource kann materieller Natur sein, wie Geld oder sauberes Trinkwasser, fruchtbares Ackerland, ein Haus oder ein schnelles Auto. Oder sie kann psychologischer Natur sein wie beispielsweise Wertschätzung, Zugehörigkeit und Leistung.“
Macht braucht Beziehungen
„In dieser Form existiert Macht nur im Kontext einer Beziehung“ und damit eben vor allem auch über Kommunikation; sei sie direkt und verbal, oder indirekt in unserer technischen Presse- und Internet-/Social Media Welt.
Dieses beziehungsorientierte Verständnis von Macht steht scheinbar im Widerspruch zu den bisherigen, vor allem sozialwissenschaftlich geprägten, Machtdefinitionen, die Hierarchien, soziale Gruppen oder soziale Stellungen in den Mittelpunkt stellen. Letztlich erklären diese sozialwissenschaftlichen Betrachtungen den Zustand, aber nicht das Warum. Nur wer das Warum versteht, kann das Umfeld so gestalten, dass neue gesellschaftlich sinnvolle und gewollte Strukturen entstehen.
Dies scheint der unausgesprochene Anspruch der Autoren zu sein: Ein neues Verständnis von Macht zu vermitteln, das die Macht weg von einzelnen Individuen und hin zu sinnvollen Systemen und Organisationen verschiebt.
Es wird ein vages und nicht zu konkretes Bild einer demokratisierten Macht entworfen. Das Wesentliche scheint den Autoren zu sein, mit vielen konkreten Beispielen das systemische Design von guten Machtstrukturen zu vermitteln. Allerdings ohne sich selbst auf ein konkretes Zielbild oder Ideal festzulegen.
Als Beispiele für verteilte Machtstrukturen werden unsere Demokratie, Mitarbeitervertreter in Unternehmen und die „Fridays for Future“-Bewegung untersucht und analysiert.
Machtverteilung und Verantwortlichkeit
„Die Mittel gegen eine exzessive Machtkonzentration sind klar: Machtverteilung und Verantwortlichkeit. Das Versäumnis, Macht zu teilen und die Mächtigen zur Verantwortung zu ziehen, öffnet Missbrauch und Tyrannei Tür und Tor, sei es in Organisationen oder in der Gesellschaft. Dem können wir nur entgegenwirken, wenn wir uns alle klarmachen, dass wir gemeinsam die Verantwortung tragen, Macht in Schach zu halten. Dazu müssen wir zuerst verstehen, was Macht ist und wie sie funktioniert. Deshalb sind die Grundlagen der Macht so wichtig. Und wir müssen unsere kollektive Macht nutzen, um die Institutionen zu schützen und zu verbessern, die eine Verteilung der Macht und die Verantwortlichkeit in Organisationen und in unserer Gesellschaft gewährleisten. Damit diese kollektive Macht gedeiht, müssen wir unsere Anführer klug auswählen und diejenigen suchen, die entschlossen sind, die gesellschaftlichen Ressourcen in unsere Entwicklung zu investieren, damit wir uns alle – egal, wer wir sind und welchen sozialen Gruppen wir angehören – zu freiheitlich denkenden und bürgerschaftlich gesinnten Mitgliedern der Gesellschaft entwickeln. Nur dann werden wir die moralische Stärke und die demokratischen Kompetenzen haben, um unsere bürgerschaftlichen Muskeln einzusetzen. Und wenn ein Politiker oder ein Konzernchef unsere demokratischen Institutionen untergräbt, werden wir seine Propaganda durchschauen, ihn als Demagogen entlarven, die Bedrohung erkennen […]“
Empathie und Demut als Schlüssel für positive Machtgestaltung
Das klingt mir dann doch zu sehr nach Gutmenschentum. Denn um einem Unternehmen oder einem Staat neue Impulse und Richtungen zu geben, bedarf es dann doch der Leistung und Initiative einiger Individuen. Das Kollektiv versagt bei der Gestaltung von Neuem dann doch ziemlich regelmäßig.
Dennoch habe ich die philosophischen Erkenntnisse genossen:
- „Während unser Grundbedürfnis nach Sicherheit auf die Gefahren der menschlichen Existenz zurückzuführen ist, basiert unser Bedürfnis nach Wertschätzung auf unserer relativen Bedeutungslosigkeit.“
- „Letztendlich wollen wir also zwei menschliche Grundbedürfnisse befriedigen: Wir wollen uns vor Gefahren schützen und wir sehnen uns nach Bestätigung und Beachtung. Das Bedürfnis nach Sicherheit und das Bedürfnis nach Wertschätzung sind so grundlegend, dass sie Machtverhältnisse über Zeit und Raum hinweg bestimmen.“
- „Wir können diese Herausforderungen beim Aufbau von Macht jedoch im Zaum halten, indem wir Empathie (das Gegenmittel zur Selbstbezogenheit) und Demut (das Gegenmittel zur Hybris) entwickeln.“
- „Macht ändert sich nicht – sie wechselt nur den Besitzer.“
Über solche Sätze kann und sollte man lange Nachdenken.
Die konkreten Fallbeispiele helfen Managern und Menschen in verantwortlichen Positionen von Organisationen auf jeden Fall, wie sie Strukturen aufbauen und fördern sollten: „Doch mit der Zeit macht sich unser Rat bezahlt und die Ergebnisse sprechen für sich: Sie erkennen die Bedeutung von Netzwerken als Quelle der Macht. Zuvor machten sie den Fehler, dass sie Autorität mit Macht gleichsetzten. Mit Autorität kann man die Einhaltung von Vorschriften anordnen, doch Engagement lässt sich nicht verordnen.“
Weil Technologien heute häufig den Rahmen für Kommunikation und Beziehungen setzen, sind sie ein Mittel zur Schaffung von Macht geworden. Dies waren sie in Form von Werkzeugen in früheren Zeiten, als Gewalt ein häufiges Mittel für Macht war. Heute sind es Technologien in neuer Form, wenn mit ihnen Kommunikation und Vernetzung und damit Beziehungen beeinflusst und kontrolliert werden.
In Summe eine neue Perspektive auf ein immer aktuelles Thema: wie wird Macht tatsächlich geschaffen? Und auch eine weiche Vision und ein Aufruf, wie die Macher und Gestalter heute Strukturen und Systeme aufbauen sollten, um Macht in guter und positiver Form entstehen und wirken zu lassen.
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Julie Battilana, Tiziana Casciaro
Power for All: Wie Macht funktioniert, wie sie uns nützt und weshalb das alle etwas angeht
Ariston, 336 Seiten, 24,00 Euro
eBook 19,99 Euro