Realitätsverlust und Blasen als Chance für Unternehmer und Investoren

25. Oktober 2023

Man sollte meinen, dass es mindestens einen Punkt gibt, der uns alle eint: die uns umgebende Realität der physischen Welt. Wir bewegen uns alle auf demselben Planeten mit denselben physikalischen Gesetzen, denselben Beschränkungen, denselben Naturkonstanten, demselben Wissenschafts- und Erkenntnisprozess. Wir können Informationen in Millisekunden auf dem gesamten Planeten verteilen und zugreifbar machen und damit die Kohärenz innerhalb von Gemeinschaften über größere Entfernung erhöhen. Erst dadurch wird es möglich, dass sich Gemeinschaften über größere Entfernungen bilden und entwickeln können.

Praktisch führt dies aber nicht zu einer immer höheren Kohärenz einer Weltgemeinschaft, sondern zu einer immer stärker fragmentierten Welt von verschiedenen Informationsblasen. In diesen Informationsblasen machen wir es uns gedanklich bequem und igeln uns mit Unseresgleichen ein – ein jeder in seiner eigenen Gruppen- und Peer-Realität.

Vereinfachung und Bequemlichkeit durch Systemkohärenz

Die weltweite Vernetzung und Digitalisierung führt also nicht zu einer immer breiteren und tieferen gemeinsamen Gesamtrealität für alle Menschen, sondern es kommt zu einer immer stärkeren Fragmentierung der informationstechnischen Lebensräume.

Wir sehen dies in der Politik, ganz extrem am Beispiel der USA mit den beiden Lagern. Die in einem Großteil ihrer Einstellungen und Lebenskonzepte eng verbundenen Gruppen sind in anderen Bereichen nahezu verfeindet und nehmen extrem gegensätzliche Positionen ein. Man sieht es aber auch in der Wirtschaft in den unterschiedlichen Branchen, bei Analysten, Medien, Investoren, Mitarbeitern, Konsumenten und Unternehmern: Wir alle leben im Luhmannschen Sinne in anderen (Informations-)Systemen.

Ganz offensichtlich wird es in den irrealen Blasen der Social-Media-Welten, in denen wir uns in gleichgeschalteten Informations-Wohlfühl-Blasen versammeln können. Darin müssen wir keinen Widerspruch oder ernsthafte Auseinandersetzung fürchten, vor allem seit wir endlich mit Gesetzen und Vorgaben (Netzwerkdurchsetzungsgesetz) scheinbar vor allem den Trollen Ketten angelegt haben, aber in Wirklichkeit die unbequeme Vielfalt mal wieder deutlich begrenzt haben.

Synchronität durch globale Ereignisse

Vor der digitalen Echtzeitvernetzung haben wir vor allem räumlich gebundene Kommunikationskammern geschaffen. Jetzt können sich solche Blasen in Branchen, Zünften oder in spezialisierten Medien-Communities weltweit ausbreiten. Die Schaffung einer gemeinsamen Realität über verschiedene Gruppen hinweg, erfolgte in den letzten 100 Jahren über wirkliche weltweite Ereignisse: große Reden, internationale Sport- und Weltereignisse wie die olympischen Spiele, die Fußball WM, die Mondlandung, Wirtschaftskrisen, Terrorakte und Kriege wurden gleichzeitig auf- und vor allem wahrgenommen. In jedem – zumindest westlichen – Wohnzimmer landete die gleiche Abbildung der Realität – keine Teilgruppen, kein Blasendenken, sondern echte Synchronität.

In einer Welt, in der Marketing, Storytelling und Narrative die Kommunikation und damit die scheinbare Realität von Milliarden Menschen bestimmen, wird es immer schwieriger, die „echte“ Lebensrealität zu erfassen oder sich als Individuum in einer der vielen Realitäten zu verorten.

Durch manipulative Praktiken der App-, Spiele- und digitalen Plattformbetreiber entfernen wir Menschen uns immer mehr vom realen Begreifen einer Situation, Bedürfnissen und Erfordernissen unserer Mitmenschen.

Verschiedene Realitäten durch künstliche und asynchrone Ereignisse

Kriege, weltweite Katastrophen oder ein Virus sind anscheinend auch heute noch in der Lage, eine Synchronisierung von Lebenswelten vorzunehmen. Darüber hinaus sind es aber vor allem weltweite Produktlaunches für Smartphones und Autos oder die Kommunikation über eine nächste disruptive Technologie, die immer mehr Menschen in die gleiche Realität befördern.

Der aktuelle Megahype um die sogenannten “Swifties”, wie sich die Anhänger von Taylor Swift nennen, macht deutlich, dass die Synchronisierung von Teilgemeinschaften in Zukunft vor allem durch künstlich geschaffene Live-Events zu Stande kommt. Wer keines der enorm teuren Konzerttickets erwerben konnte, besucht das Konzert im Livestream. Diese Entwicklung ist kein Einzelfall, denn ganze Festivals sind mittlerweile in Livestreams verfolgbar. Und schon ist sie da, die Mischform des realen Erlebens und dem künstlichen Erleben Internet. Wer an dieser Stelle die Aufregung nicht versteht: Es geht in diesem Artikel nicht um die Dramatik der Entwicklung von musikalischen Live-Events. Aber sie sind ein gutes Beispiel dafür, wie verschiedenste Realitäten in Teilgruppen entstehen.

Zentralbanken und Staaten als Realitätsentzerrer

Wir müssen uns die Frage stellen, wie schlimm es um unsere Spezies steht, wenn solche künstlichen Ereignisse unsere Lebensrealität mitdefinieren. Gehen wir dazu mal weg von Live-Konzerten hin zu Krisen. Während früher das Wesentliche zur Wahrnehmung von beispielsweise Wirtschaftskrisen ein Crash war, versuchen Zentralbanken und Staaten heute alles, um genau das synchrone Massen- und Marktphänomen Crash nicht mehr stattfinden zu lassen. Das führt gleichzeitig dazu, dass Menschen eine Wirtschaftskrise nicht mehr als Krise wahrnehmen, weil sie sich über mehrere Jahre streckt und immer andere Teilgruppen davon betroffen sind. Es gibt kein allgemeines und übergreifendes Erleben einer Wirtschaftskrise und damit kommt dieses Narrativ nur noch als theoretisches Gebilde vor, das Staaten durch Schuldenpolitik und nette Geschichten der Zentralbanken zu verhindern versuchen.

Die klaren Gesetze von Schulden und Zinsen

Ray Dalio hat in „Changing Worldorder“ die zwingenden Zusammenhänge zwischen Zins, Geldmenge und Schulden beschrieben, die ähnlich festen Naturgesetzen folgen wie die Gravitation oder elektrische Felder. Auch die Wirtschaftswelt ist also ein uns umgebendes System, eine Realität, der sich keiner von uns entziehen kann. So wie die physische Existenz der Erde unser Leben bestimmt, macht das auch das Wirtschaftssystem, das uns alle – zur gleichen Zeit und auf dem gleichen Planenten – umgibt.

Aber wir nehmen die Auswirkungen gar nicht mehr zur gleichen Zeit wahr. Im Sommer 2022 hatte die VC-Community in den USA schon begriffen, dass die Welt der immer höheren Bewertungen zu Ende ist. Erst ein Jahr später merken wir es so richtig auch in Deutschland bei unseren Startups: Es gibt kein Geld mehr für digitale Plattformmodelle im B2C-Bereich oder ein Business, was vielleicht in drei Jahren Breakeven ist. Dax, MSCI und S&P 500 sehen zwar schon wieder ganz ok aus, obwohl die Stimmung unterirdisch ist, aber der Werthub der letzten neun Monate hängt in fast jedem Index an ein paar Tech-Titeln. Um es auf den Punkt zu bringen und unmissverständlich klarzumachen: Die Realität der „Realwirtschaft“ sieht düster aus.

Die Realität von Zinsen und Schulden muss sich also nacheinander und mit deutlichem zeitlichem Verzug durch die Bilanzen und Berichte von Unternehmen und damit in verschiedenen Märkten durchfräsen. Während hierzulande die Hauspreise in den meisten Regionen schon deutlich gefallen sind, gibt es Regionen in den USA, die davon noch nichts spüren.

Aber eines ist klar: Die irrealen Zeiten von Nullzins sind erstmal vorbei – faktisch nicht begreifbar für Menschen unter 35, die in Ihrem Berufsleben noch keine anderen Zeiten als den mit Nullzins induzierten Turbowachstum gesehen haben. Wie lange also dauert es, bis sich tausende von Branchen und Communities wieder synchronisiert haben und sie die Realitäten und Naturgesetze von Zins und Schulden wieder in ihre Handlungen einbeziehen?

Die unbequeme Chance für Unternehmer und Investoren

Es geht nicht um das Heraufbeschwören und Herbeireden einer nächsten Krise. Es geht um das Aufspüren von Chancen. Und zwar ganz unabhängig davon, ob es jetzt nochmal eine deutliche Korrektur oder gar einen Crash an den Aktienmärkten geben wird oder ob wir die Tiefpunkte an den Aktienmärkten schon gesehen haben.

Es geht um das konkrete Erkennen der Realitäten in der eigenen Branche, also der eigenen Community, der eigenen Blase und den übergreifenden Blick auf andere Branchen, Systeme und Märkte. Es ist jetzt wichtig, Thesen zu bilden, nachzudenken, Handlungen anderer zu antizipieren und dann vor allem eigene Entscheidungen zu fällen. Das ist anstrengend und erfordert Mut. Eine Krise herbeizureden bringt keinen eigenen Nutzen. Aber sein Management auf eine Krise als Chance einzuschwören, das hilft, Optionen aufzubauen.

Als Unternehmer dürfen wir nicht nur mit dem Strom der eigenen Peergroup schwimmen und ignorieren, was nicht gut oder sogar woanders besser läuft. Denn wenn wir als Unternehmer wirklich einem Impact, haben wollen, dann ist unsere Welt unbequemer. Wir steuern letztlich immer entgegen und korrigieren, weil wir eine andere Perspektive auf die gefühlte Realität unserer Umgebung geben sollten. Wir müssen zum Realitätstransformator werden und in unsere Blase Realitäten hereinbringen, wie es früher Wirtschafts-Crashes oder andere Schockereignisse konnten. Unternehmer, Gestalter und Macher sind die Menschen, die anderen aufzeigen, wie es morgen sein kann oder werden wird. Wir müssen in unserer Peergroup für den regelmäßigen Realitätsabgleich sorgen und synchronisieren. Wir sind die Menschen, die von allen meistens belächelt werden als zu unruhig, nie zufrieden oder unbequem. Weil wir, egal wie es läuft, dennoch Fragen stellen und neue, andere Perspektiven einnehmen. Und das ist gut so!

Und auch wenn wir uns nach einer Peergroup sehnen, mit der wir uns über solche Dinge austauschen können: Die konkreten Entscheidungen, vor allem die unangenehmen, die müssen wir alleine fällen. Denn es geht nicht darum, in Blasen und Communities der Herde zu folgen, sondern die gleiche Wahrnehmung an viele zu vermitteln und damit in und über Gruppengrenzen hinaus eine gemeinsame Realität zu schaffen.

Quelle: https://www.pexels.com/de-de/foto/licht-kunst-abstrakt-glas-364495/
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