Wie wir mit der Minimierung von Risiken unser Risiko vergrößern

30. März 2022

In den verschiedensten Bereichen versuchen wir Menschen, Ordnung zu schaffen und Risiko zu minimieren. Wir kämpfen gegen die Entropie an, obwohl wir wissen, dass es sinnlos ist. Denn die Entropie in jedem System nimmt durch jeden natürlichen Vorgang stets zu, wie es uns der zweite Hauptsatz der Thermodynamik lehrt. Wir können einfach nicht mit Unsicherheiten leben. Mit Modellen und Theorien versuchen wir, die Zukunft zu berechnen und Unsicherheiten zu reduzieren. Dies tun wir in drei wesentlichen Bereichen:

  • Naturwissenschaften
  • Finanzmärkten
  • Sozialwissenschaften

Als Menschheit streben wir mit einem Großteil unserer Lebensenergie danach, Unsicherheiten zu reduzieren. Wo Wissenschaft und Modelle dem einzelnen scheinbar nicht helfen, schließen wir Versicherungen ab und lagern damit das Bilden von Modellen an Versicherer aus. 

Für Psychopathen sind Gewalt und sogar Krieg ein Teil von rationalen Vorgehensweisen, mit denen sie Unsicherheiten für sich selbst oder einzelne Gruppen reduzieren wollen. 

Das schmerzliche Paradoxon unseres Menschseins ist es, dass wir mit unserem Streben nach Ordnung, mit dem Etablieren rationaler Vorgehensweisen unsere Welt für unseren Verstand ordnen. Aber durch unser rationales Verhalten nach diesen Modellen erzeugen wir letztlich Chaos. Rationales Vorgehen ordnet die Welt – rationales Verhalten schafft Chaos. 

Naturwissenschaften

In den Naturwissenschaften sind wir Menschen seit der Aufklärung beim Natur-Beobachten und Modelle-Bilden relativ weit gekommen. Wir können nicht nur berechnen, wie und warum Körper verschiedener Dichte vom schiefen Turm von Pisa auf den Boden fallen, oder auf welchen Bahnen sich Himmelskörper bewegen. Wir können komplexe Verbrennungsprozesse für Raketen simulieren, unmöglich erscheinende Bauwerke konstruieren und Quanten-Computer erschaffen.

Wir haben ein Standardmodell, das Elementarteilchen und deren Wechselwirkung erklärt. Aber es ist noch nicht gelungen, die Gravitation im Standardmodell zu integrieren. Das übliche Vorgehensmodell der Wissenschaft, bei dem wir eine Theorie bilden und dann durch ein Experiment überprüfen, ist aus dem Tritt geraten. Fundamentale Fortschritte haben wir seit vielen Jahren nicht gemacht, obwohl wir immer größere Teilchenbeschleuniger bauen, die mit immer größeren Energien versuchen, immer kleinere Teilchen zu untersuchen. 

Die Physikerin Sabine Hossenfelder hat eine Erklärung, warum es nicht so richtig weiter geht: Zum einen ist ihrer Ansicht nach auch wissenschaftliches Vorgehen nicht frei von Modeerscheinungen und sozialen Effekten. Zum anderen bestimmen wir mit der Suche nach „schönen“ Modellen unsere Vorstellung von der Realität.

In der Teilchenphysik leiten wir die Modelle schon lange nicht mehr von der Beobachtung an der Natur ab, sondern entwerfen zunächst mathematische Modelle. Diese überprüfen wir dann mit hochkomplexen, milliardenschweren Experimenten. Sabine Hossenfelder kritisiert, dass Forscher dabei schöne und einfache mathematische Modelle bevorzugen. Dadurch wird die Natur, die wir damit bestätigen oder finden wollen aber eher komplexer. Wir benötigen immer mehr Teilchen und Dimensionen, um die Modelle in die Realität umsetzen zu können.

Zudem kommen soziale Effekte wie Erklärungstrends und Moden in die wissenschaftliche Welt, weil lange Zeiträume (Jahrzehnte) zwischen den mathematischen Modellen und den Experimenten liegen.

Mit strikt rationalem Vorgehen im wissenschaftlichen Betrieb der Universitäten und großen Experimenten wollen wir die Welt ordnen. Aber selbst mit rationalem Vorgehen durch viele Wissenschaftler erreichen wir kein konsistentes Bild, sondern verrennen uns regelmäßig in ein Chaos der Modelle.

Die Wissenschaft mit ihrer Vorgehensweise trägt wesentlich zur Reduktion von Risiken in unserem Menschsein bei, weil sie immer mehr Zusammenhänge in der realen Welt erklären kann. Der Erkenntnisprozess selbst unterliegt aber den menschlichen Schwächen sozialer Interaktion und damit letztlich unserer Willkür und Vorlieben.

Sozialwissenschaften

Die Sozialwissenschaften haben in den 1960er Jahren mit B.F. Skinner mit dem Behaviorismus eine wesentliche Grenze überschritten. Denn spätestens ab diesem Zeitpunkt haben wir neben Tieren auch den Menschen selbst während der Dauer des Experimentes vom Subjekt zum Objekt degradiert. Nur so konnten die Wissenschaften das Recht ableiten, menschliches Verhalten fortan mit den rationalen Methoden der Naturwissenschaften als Objekt begreifbar zu machen. Die Auswirkungen dieser Logik sind zerstörend für uns. Denn dadurch haben wir es zugelassen, dass uns auch Wirtschaftsunternehmen wie Google und Meta (Facebook) zu Objekten machen dürfen und die Grenze zwischen Modell-Vorhersage und Manipulation schon längst überschritten haben. Die Sozialwissenschaftler sind der Neugier ihres Forscherdranges erlegen, wie einst in den 1940er Jahren die Atomphysiker. Und sie haben Grenzen überschritten, indem sie für ihre Studien gerne auf die Verhaltensdaten der großen Datenkraken zurückgreifen.

Wenn wir immer mehr Daten von Menschengruppen oder Individuen sammeln, lassen sich daraus Vorhersagen für das Verhalten von Gruppen, aber auch von einzelnen Menschen machen. Leider hat dieses angeblich wissenschaftliche Sammeln von Daten zu Mensch-Objekten einen Haken: Das Sammeln der Daten mit einfachsten, zum Teil gut gemeinten Feedbackschleifen (Amazon: andere Kunden kauften auch…) lässt sich nicht von aktiver Manipulation unterscheiden. Wir Menschen sind soziale Wesen und keine Objekte.

Die Reduktion von Unsicherheit beim menschlichen Verhalten ist durch konsequentes Sammeln von Daten bei Gruppen und Individuen inzwischen problemlos möglich. Einige nennen es Manipulation, andere haben es zum extrem erfolgreichen datengetriebenen Geschäftsmodell ausgebaut.

Die Wissenschaft hat also zur Vorhersagbarkeit von menschlichem Verhalten ganze Arbeit geleistet. Und in speziellen Bereichen der Daten-Ökonomie haben wir dies gesellschaftlich akzeptiert.

Es bleibt zu hoffen, dass wir in Zukunft beim Wunsch nach Vorhersagbarkeit ausgewogenere Linien zwischen Individuen und Unternehmen finden. Was nützt es uns Menschen, wenn wir das Wetter, die Ankunft eines Freundes oder das Gefallen eines Buches genauer Vorhersagen können denn je, aber im Gegenzug dank Algorithmen der Kauf des nächsten Autos oder Handys vorhergesagt werden kann, weil wir faktisch manipuliert wurden?

Finanzmärkte

Wir versuchen nicht nur die Natur und uns Menschen in Modelle zu zwängen, sondern auch die von uns Menschen geschaffene Finanzwelt. Klar, denn an keiner anderen Stelle wäre es so einfach, mit ein paar guten Vorhersagen viel Geld zu verdienen.

Das klassische Instrument, um an einem guten Modell von Experten teilzuhaben, heißt Fonds. Ein Manager teilt Anlegern sein Konzept mit, mit dem er einen höheren Ertrag als der Markt erwirtschaften will, sammelt Geld ein und los geht’s. So hat das die letzten 50 Jahre funktioniert. Der Manager bekommt eine Management-Gebühr, die Bank eine Vertriebsprovision und eine Handling-Fee, der Broker und die Börse eine Transaktionsgebühr.

Das Ergebnis ist meistens ernüchternd. Da gibt es Hasardeure, die ´mal für zwei oder auch vier Jahre mehr rausholen als andere. Aber auf lange Sicht schlägt keiner nachweislich die Indizes wie S&P, DAX oder MSCI, obwohl diese eigentlich nur eine Auswahl der größten Titel eines jeden Landes sind. 

Kann ein Manager also wirklich das Risiko für den Anleger minimieren und die Rendite maximieren? Die Realität ist desillusionierend. Bei einem Zeithorizont von 20 Jahren und mehr ist es unendlich schwierig, die Indizes zu schlagen. Vor allem in Boom-Zeiten können Anleger durch Setzen auf das vermeintlich richtige Pferd (z.B. Tech-Titel oder Krypto) eine Menge Geld verdienen, zumindest wenn sie rechtzeitig umsteigen.

Übrigens hat die Finanzwelt die Risikoregeln schon massiv verbogen. Es geht darum, als Manager besser als bestimmte Indizes zu sein. Einen stets positiven Ertrag verspricht erst gar kein Risiko-Manager seinen Kunden.

Risikominimierung – Vorhersage oder Fortune?

So bleibt die fade Vermutung, dass – egal ob arm, reich oder superreich – niemand ein echtes Vorhersagemodell für die Zukunft hat. Gleich ob Tech-Milliardär oder Hedge-Fonds Milliardär: bei allen sieht man bei näherer Betrachtung, dass eine Menge Fortune im Spiel ist und keiner den über viele Jahre gültigen heiligen Gral der Marktvorhersage gefunden hat.

Es scheint, egal wieviel schlaue Wissenschaftler Modelle entwickeln und versuchen die Zukunft vorherzusagen so, dass sich die Finanzmärkte den rationalen Vorhersagen zur Minimierung von Risiken entziehen.

Wäre da nicht Hyman P. Minsky, der noch etwas Beängstigenderes herausgefunden hat. Er geht davon aus, dass das Finanzsystem Übertreibungen und damit Krisen aktiv hervorbringt, weil sich die Menschen aufgrund ihrer Vorhersagemodelle rational verhalten.

Seiner These nach laufen in einer Boom-Phase deswegen so viele Anleger in die gleiche Richtung und verursachen die Übertreibung, weil sich zum einen die Volatilität, also das Maß für das Risiko verringert. Da sich mit der Volatilität auch die Risikoprämien verringern, muss zum anderen mehr Geld nachinvestiert werden. Es ist also aus Anlegersicht rational, einem Trend zu folgen, weil die mathematischen Modelle eine geringere Unsicherheit vorhersagen.

Dieses Vorgehen geht bis zum Minsky Moment gut; das ist der Augenblick, in dem die rationalen Anleger den Modellen nicht mehr folgen und nicht mehr weiter investieren.

Das wirklich Tragische an uns Menschen ist, dass wir die rationale wissenschaftliche Vorgehensweise zum Idealbild unseres menschlichen Handelns auserkoren haben, um die Zukunft berechenbarer und weniger unwägbar gestalten zu können. Und jetzt sagt uns Minsky, dass wir zumindest in der Finanzwelt damit geradewegs Chaos produzieren.

Gibt es einen Ausweg?

Unser Wunsch und Wille, die Zukunft zu ordnen und vorherzusagen, um unsere zukünftigen Risiken zu minimieren, führt in verschiedenen Systemen zu seltsamen Auswüchsen:

  • In der Finanzwelt zeigt uns Minsky auf, dass wir durch rationales risikominimierendes Handeln der einzelnen Akteure unausweichlich Krisen produzieren.
  • In den Sozialwissenschaften haben wir bewiesen, dass unsere Modelle bei immer vollständigerer Kontrolle der Input- und Output-Parameter des Probanden Menschen zur eigenen Unfreiheit führen.
  • Und in der Wissenschaft selbst haben wir gezeigt, dass wir echten Erkenntnisgewinn bei den fundamentalen Fragestellungen der Materie durch unsere Menschlichkeit (soziales Handeln) verhindern.

Im Roman „Die drei Sonnen“ von Liu Cixin gibt es eine unvorhersehbare Welt mit drei Sonnen, in der Wesen nur mit extremer Anpassungsfähigkeit überleben können. Aber auch das führt nicht in eine erstrebenswerte Welt.

Vielleicht reicht es einfach, wenn wir uns ab und zu bewusst machen, dass unser beständiger Wunsch nach der Vorhersehbarkeit der Zukunft uns je nach betrachtetem System entweder Unfreiheit, Chaos oder Willkür bringt.

Quelle: https://unsplash.com/photos/AhAGyHoYqB0
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