Warum wir eine neue Aufklärung brauchen
Kaufentscheidungen können heute an jedem Ort nicht nur gefällt, sondern auch umgesetzt werden. Smartphones ermöglichen uns den Kauf von Waren aber auch die Ausführung von Wertpapiergeschäften nahezu überall und zu jeder Uhrzeit. Aber wie fällen wir diese Entscheidungen? Sind wir durch unsere Smartphones, den ständigen Zugriff auf Wissen und vor allem das für uns durch Algorithmen vorsortierte Wissen wirklich besser informiert? Sind unsere Entscheidungen durch gefilterte Informationen fundierter? Ist die Qualität unserer beeinflussten Entscheidungen besser? Oder werden wir mit der Art der aufbereiteten Informationen nicht einfach nur in eine bestimmte Richtung geschubst, die nicht wir, sondern unsere digitalen Zwillinge bestimmen?
Ist es gut, dass wir einen Kredit-Score schaffen, mit dessen Hilfe wir festlegen können, ob ein Mensch eine bestimmte Transaktion durchführen kann? Fällt die Antwort auf diese Frage anders aus, wenn immer noch ein Mensch eine solche Entscheidung fällt, aber der Mensch Informationen aufbereitet von Maschinen erhält?
Entscheidungen – oder was macht uns Menschen aus?
Selbstbestimmung und Autonomie ist ein wesentlicher Eckpfeiler, den wir Menschen über die Aufklärung errungen haben, um uns aus der Macht von wenigen Herrschenden zu befreien und demokratische Gesellschaften aufzubauen. Dieses Menschenbild baut auf einer Gruppe aus Individuen auf und ermöglicht uns ein selbstbestimmtes Leben in einer menschlichen Gesellschaft.
In diese Gesellschaft drängen seit einigen Jahren mehr und mehr Maschinen. Dazu zählen sowohl virtuelle Maschinen wie Social-Media-Plattformen und Apps sowie physische Maschinen wie Cobots und vielleicht bald schon autonom fahrende Autos. Bisher drängt all dies in unsere Welt und trifft uns mehr oder weniger unvorbereitet. Wir haben den Umgang damit nicht geübt und wissen nicht wirklich, welche Konsequenzen diese Entwicklungen für uns als Individuum oder als Gesellschaft insgesamt bedeuten. Wir sollten offen sein und die Dinge ausprobieren, rein theoretisches Warnen oder eine Diskussion vor der Handlung nützt auch bei kleinen Kindern und einer Herdplatte wenig. Ignorieren und Zweifeln schützt uns nicht vor Fehlern, sondern macht die Kluft zwischen denen die Technologie als Werkzeug verstehen und für sich nutzen können und denen, die zumindest versuchen, AI-Technologien abzulehnen, unnötig größer. Die klare Empfehlung lautet: Die Entwicklungen annehmen und neue Regeln für jeden einzelnen sowie die Gesellschaft festlegen. Bevor uns KI und digitale Innovation überrollt und die Digitalisierung, die wir in vielen Bereichen so sehr herbeisehnen, zu einer Überforderung wird, müssen wir uns ganz konkret damit auseinandersetzen. Anders wird es nicht gelingen, unsere menschliche Autonomie und Würde zu behalten, ohne vor Innovationen wegzulaufen.
Entscheidungsfähigkeit als Unterscheidungsfähigkeit
Das Kriterium der Entscheidungsfähigkeit als Unterscheidungsfähigkeit zwischen einfachen Maschinen und Menschen zu nutzen, wird in Zukunft nicht mehr funktionieren. Cobots, Drohnen und Apps sind schon heute Realität und werden in immer selbstständigerer Form Entscheidungen für oder gegen uns fällen. Unser Einfluss schmilzt, ohne, dass wir es so richtig merken. Uns fehlt das flächendeckende Bewusstsein und das Know-How für den richtigen Umgang mit KI und unserer Rolle dabei.
Die Zukunft der Entscheidungen
Wir werden uns ein neues Selbstverständnis erarbeiten müssen, eine neue Aufklärung, in der wir diesmal nicht die Gleichheit zwischen uns Menschen regeln und dafür Systeme wie die Demokratie erschaffen, sondern die Abgrenzung von Menschen zu Maschinen klären und Regeln festlegen. Sonst wird kein Raum für uns Menschen bleiben. Klingt hart, aber davon dürfen wir uns nicht einschüchtern lassen. Wir dürfen keine angsterfüllte Diskussion über Sprachmodelle oder Machine-Learning führen, sondern müssen Regeln für Schnittstellen zwischen Menschen und Maschinen schaffen. Und das umfasst vor allem die Frage: Welche Entscheidungen dürfen Maschinen in Zukunft fällen und welche Entscheidungen behalten wir uns Menschen vor?
Autonomie – oder: Was hat uns die Aufklärung gebracht?
Das Prinzip der Demokratie ist die Möglichkeit zur Wahl, die Entscheidung der Mehrheit. Der Kern ist die gleiche Stimme jedes Menschen. Das war die zentrale Antwort auf die große Ungerechtigkeit der Zeit vor der Aufklärung.
Denn bis dahin hatte der absolut Herrschende die letzte Entscheidung bei allem, was ihm wichtig war. Wir haben aus dieser Aufklärung die Gleichheit aller Menschen abgeleitet. Das bedeutet, jeder soll die gleichen Rechte erhalten, jeder soll die gleichen Möglichkeiten haben und jeder bekommt die gleiche Stimme. Dass dieser Prozess bis heute seine Macken hat und bei weitem nicht wirklich jeden miteinbezieht, ist eine andere Diskussion. Festzuhalten bleibt aber, dass wir uns als Gesellschaft dazu entschieden haben, Wahlen durchzuführen, bei der jeder mit der gleichen Stimme eine Entscheidung für die Allgemeinheit treffen kann. Die Verfassung – also ein menschlich geschaffenes Konstrukt – legt fest, über was wir als Einzelner mit unseren individuellen Rechten entscheiden dürfen und über welche Sachverhalte wir mit einer Wahl entscheiden – in der jeder von uns dann dieselbe Stimme hat. Dieser Spielraum zwischen eigenen Entscheidungen und dem Mitwirken einer Wahlentscheidung ist unsere menschliche Autonomie – unser so bedeutender Gestaltungsspielraum!
Gestaltungsspielraum Cobot und KI-Welt?
Dürfen wir als Individuum alle Rechte zur Entscheidung – also unseren gesamten Gestaltungsspielraum – an eine Maschine oder einen Algorithmus übertragen? Was bleibt dann noch von uns als Individuum übrig? Was ist, wenn jemand anderes uns einen Algorithmus zur Verfügung stellt, der dann Entscheidungen für uns fällt? Müssen wir nicht mindestens festlegen können und dürfen, welche Entscheidungen von dem Algorithmus beeinflusst werden?
Unsere eigenen Rechte zur Entscheidung und Autonomie hören dort auf, wo wir die Sphäre von anderen Menschen berühren, sie einschränken oder verändern. Wie ist das in Zukunft mit Cobots und Algorithmen? Müssen wir auch gegenüber Algorithmen achtsam sein? Können sie genauso wie andere Menschen in unsere Sphäre eintreten und unser Entscheiden einschränken oder verändern?
Roboter-Regeln
Isaac Asimov hat in visionärer Form bereits 1942 ein Konzept im Umgang mit Robotern vorgeschlagen. Dieses Konzept und damit seine Regeln bestanden aus drei Kernaspekten:
- Roboter dürfen keine Menschen verletzen,
- Roboter müssen den Befehlen des Menschen gehorchen,
- Roboter müssen sich selbst schützen.
Der amerikanische Biochemiker hat diese Regeln für die Interaktion von Robotern aufgestellt und dabei noch nicht im Blick gehabt, wie die Interaktion mit Maschinen unser eigenes Menschsein beeinflusst. Genau diesen Schritt müssen wir jetzt anstoßen und gehen. Wir müssen diese Regeln ausweiten und neue Rahmenbedingungen aufstellen.
Unsere kooperative Welt mit physischer KI
Wir werden die Sache neu vom Menschen und seinen Bedürfnissen denken müssen. Es geht nicht mehr wie in der Aufklärung um die Gleichheit der Menschen untereinander, sondern um die Schaffung eines Autonomierahmens des Menschen gegenüber nicht deterministischen Maschinen.
Diesen Raum verlieren wir gerade als Menschen. Wir sollten nicht warten, bis wir ihn verloren haben, sondern uns genau jetzt und heute Gedanken machen, ihn für uns zu bewahren.
Wir brauchen eine neue Aufklärung, die den (Mit-)Menschen in Abgrenzung zur Maschine (wieder) in den Mittelpunkt unseres Denkens und Handelns stellt. Dazu brauchen wir Mitdenker, die darüber nachdenken, wie so eine Antrophokratie aussehen kann und sollte, ohne dass wir als erstes über Technologieverbote nachdenken.