Das Wechselspiel von Hierarchie und Netzwerken und die Auswirkungen für unsere Zukunft

16. Januar 2019

Hierarchische Strukturen und Netzwerke sind wie Yin und Yang: es sind zwei Prinzipien, die entgegengesetzt wirken, sich aber für unser Menschsein bedürfen. Niall Ferguson erläutert in seinem Buch „Türme und Plätze“ anhand vieler historischer Beispiele, wie Netzwerke Veränderungsprozesse in hierarchischen (Macht-)Strukturen angestoßen oder sogar aktiv herbeigeführt haben.

Von den ersten Christen bis zu Luther: die Macht von Netzwerken

Dabei geht es nicht nur um geheime Organisationen wie die Illuminaten; auch die Christen haben als Netzwerk organisiert das römische Imperium mit destabilisiert. Oder Luther, dem die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern den Weg bereitet hat, um die hierarchische weltweite Organisationsstruktur der katholischen Kirche durch das protestantische Netzwerk zu zerstören.
Ferguson führt in seinen Beispielen den Aufstieg von Familien-Netzwerken mit sehr unterschiedlichen Organisations- und Strukturkonzepten an – wie die Häuser Sachsen-Coburg-Gotha und Rothschild. Die einen kontrollieren über viele Jahre hinweg nahezu alle europäischen Königshäuser, die anderen über fast 100 Jahre die Finanzströme in Europa.

Mathematische Konzepte zur Erläuterung geschichtlicher Zusammenhänge

Und auf dieser Basis kann man als Leser auf einmal die Parallelen zwischen sowjetischen Spionage-Netzwerken im und nach dem zweiten Weltkrieg und den islamistischen Netzwerken, die die Anschläge am 11. September 2001 organisiert haben, erkennen.
Ferguson verbindet die geschichtlichen Details mit der sozialen Netzwerkanalyse unter Nutzung der Notation und Darstellung der Graphentheorie. Es ist schon verblüffend, wie man mit diesem mathematischen Konzept neue Aspekte in historischen Ereignissen finden kann und welche neuen Einsichten über Ursache und Wirkung sich daraus für unser Geschichtsverständnis ergeben.

Diplomatie und Krieg als logische Notwendigkeit

Unser Konzept der souveränen Staaten, das sich nach dem westfälischen Frieden entwickelt und durchgesetzt hat, basiert auf einer hierarchischen staatlichen Struktur, die nach innen und außen souverän ist. Damit können souveräne Staaten nur durch Netzwerke miteinander verbunden werden. Um Netzwerke zwischen Staaten über einen längeren Zeitraum stabil zu halten, sind Diplomatie und Krieg eine logische Notwendigkeit.
Der Wiener Kongress hat das Pentarchie-System eingeführt mit den Mächten Frankreich, Österreich, Großbritannien, Russland und Preußen. Nach Zerstörung des Machtnetzwerkes durch den ersten Weltkrieg hat es keine adäquates Nachfolgekonzept gegeben. Erst nach dem zweiten Weltkrieg haben sich durch die Konzepte G6 (Sicherheitsrat), G7, G8, G9, G20 zumindest für einige Jahre wieder stabile Netzwerke zwischen Staaten entwickelt.
[selectivetweet]Warum unser Streben nach Frieden und Freiheit die Stabilität der Weltordnung gefährdet.[/selectivetweet]
Auf dieser abstrakten logischen Ebene wird nachvollziehbar, dass Netzwerke zwischen souveränen Staaten nur funktionieren können, wenn souveräne Staaten oder Gruppen als letztes Mittel auch den Krieg einsetzen. Auf diese Entschlossenheit zu verzichten bedeutet, die Stabilität unserer Netzwerk-Weltordnung zu gefährden. Damit wird klar, dass wir mit unserer Wohlstandslogik und unserem Friedens- und Freiheits-liebenden Innenpolitik Jahr für Jahr die Wahrscheinlichkeit für einen Krieg erhöhen.

Wem gehört die Netzwerk-Infrastruktur?

Aber dies ist nicht die einzige Gefahr für unsere aktuellen Wohlstands-Gesellschaften: Während Märkte, Straßen und Plätze früher öffentlicher Raum waren, der uns von den souveränen Staaten und Städten zum Austauschen und Netzwerken zur Verfügung gestellt wurde, hat sich dies in der digitalen Welt grundlegend verändert. Die Infrastruktur der Netzwerke von heute sind Google, Facebook oder LinkedIn. Diese Infrastruktur gehört aber nicht dem dem Souverän, sondern die gesamte Infrastruktur und das Netzwerk selbst gehören wirtschaftlichen Akteuren mit eigenen Interessen.
Damit werden soziale Netzwerke ohne Regulierung entweder zur Gefahr der Souveräne, so wie dies schon im arabischen Frühling geschehen ist. Oder der Souverän kontrolliert die Netzwerke. Doch dann wird klar, dass sich die Netzwerke in nicht zu kontrollierende Nischen zurückziehen; die logische Konsequenz daraus ist, dass sie von innen heraus gegen die souveräne und hierarchische staatliche Machtstruktur kämpfen werden.

Warum Netzwerke nicht reguliert sein sollten

Egal auf welcher Skalierungsebene – Familie, Unternehmen, Verein oder Staat – immer geht es um hierarchische Ordnung, um den Alltag effizient zu organisieren. Und die Veränderung geschieht über Netzwerkstrukturen. Entrinnen kann man diesen sich bedingenden Wechselwirkungen nicht, aber man kann mit intelligenten Konzepten versuchen, möglichst lange Phasen ohne Krieg zu organisieren. Damit man dieses Ziel erreichen kann, muss man jedoch innerlich bereit sein, Auseinandersetzungen und Krieg als letzte Option auch wirklich anzuwenden.
Ferguson befürchtet: Die Babyboomer haben es versäumt, „dass Ungleichheit nicht durch umregulierte Netzwerke reduziert wird, sondern durch Kriege, Revolutionen, Hyperinflation und andere Formen der Enteignung“.
Wir werden also schleunigst neue Konzepte ersinnen, diskutieren und anwenden müssen, um herauszufinden, wie wir den Besitz von Netzwerken in der digitalen Welt neu regeln und wie wir die Strukturen zwischen Staaten dynamisch neu organisieren können.
Mal wieder so ein Buch, das einem völlig neue Sichtweisen auf unsere eigentlich schon bekannte Welt liefert. Klare Lese-Empfehlung!
Weitere Lese-Empfehlungen zu den Themenbereichen Digitale Transformation und Entrepreneurship gibt es hier auf meinem Blog oder direkt bei Amazon.
Niall Ferguson
Türme und Plätze: Netzwerke, Hierarchien und der Kampf um die globale Macht
Propyläen Verlag, 640 Seiten, 32,00 Euro
Kindle-Ausgabe 29,99 Euro

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