Die Imagination des Kapitalismus von morgen

17. Oktober 2018

Mit seinem Buch „Imaginierte Zukunft: Fiktionale Erwartungen und die Dynamik des Kapitalismus“ bringt Jens Beckert uns zu einer neuen Sichtweise auf eben jenes Thema. Mit Akribie und Systematik arbeitet er wissenschaftlich profane Aspekte und erstaunliche Details und Schlussfolgerungen über das Wesen des Kapitalismus heraus.

Das Konzept des Kapitalismus

Grundlegend am Konzept des Kapitalismus ist, dass er unsere Sichtweise auf die Zeit ordnet, so Beckerts Meinung. Im Kapitalismus leben sowohl die Unternehmer als auch die Konsumenten in der Zukunft: Die Unternehmer erwarten durch ein neues Produkt, eine Investition oder eine neue Technologie eine höhere Rendite, die Konsumenten träumen von der zukünftigen Erfüllung ihrer Wünsche, wenn sie sich endlich das neue Produkt XY leisten können.

Das Kapitalismus-Konzept zwingt uns also quasi dazu, uns ständig mit einer unbekannten Zukunft auseinanderzusetzen. In anderen Kulturen, etwa in China ist ein Bezug auf die Vergangenheit, oder bei einer Reihe von Naturvölkern der Bezug auf die Kreisläufe der Natur vorherrschend. Ob der Kapitalismus in Hinblick auf unseren zeitlichen Kulturbezug Ursache oder Wirkung ist, bleibt offen. Fest steht: Er ist auf jeden Fall untrennbar mit unserem zeitlichen Kulturkonzept in westlichen Kulturen verbunden.

Der Soziologie-Ansatz

Der zweite Pfeiler der Erkenntnis für Beckert ist der, dass der Kapitalismus ein soziologisches Kommunikationskonzept und damit ein Spiegel unserer Gesellschaft ist. Beckert macht uns so deutlich, dass die Kapitalismus-Kritiken der letzten Jahre und die Wortschöpfung Turbo-Kapitalismus keine Kritiken am Konzept des Kapitalismus sind, sondern gesellschaftskritische Anmerkungen zu Auswüchsen in unserm Sozialgefüge. Sie können daher auch nur auf dieser Ebene behoben werden.

Kapitalismus ist damit ein soziologischer Ansatz, der auf Basis von Vertrauen Werte erzeugt und vernichtet. Es gibt überhaupt nichts auf diesem Planeten, das einen Wert hat, den wir Menschen nicht rein über Kommunikation untereinander bestimmen. Es gibt auch keine echten Wertespeicher über Jahrhunderte, die einen realen Wert an sich haben.

Auf den Punkt

Im Kapitel „Bausteine des Kapitalismus“ geht es um „Geld und Kredit: Das Versprechen zukünftigen Werts“ sowie um „Innovation: Imaginationen der technologischen Zukunft“ und „Konsum: Wert durch Bedeutung“.

Die Detail-Aspekte geben tolle Einblicke und sind absolut auf den Punkt gebracht:

  • „Wie Georg Simmel es ausdrückt, ist Geld einfach »eine Anweisung auf die Gesellschaft« (Simmel [1907] 2009: 242)“
  • „Man kann also sagen, dass die Banken Zeit für die Wirtschaft kaufen (Esposito 2010: 107)“
  • „Stabilität einer Währung beruht ausschließlich auf institutionellen Strukturen und rhetorischen Bekenntnissen.“
  • „Der Wert einer Währungseinheit ist »kein Maß für den Wert eines Gegenstands, sondern ein Maß für das eigene Vertrauen in andere Menschen« (Graeber 2012: 53).“
  • „Die Existenz dieser Fiktion ist eine soziale Schöpfung, die von Institutionen, aber auch davon abhängt, dass die Aussetzung der Ungläubigkeit kommunikativ erreicht und gefestigt wird.“ (Beckert 2018)

Instrumente der Imagination

Aufregend und erfrischend erkenntnisreich ist auch das Kapitel über „Instrumente der Imagination“: „In der Vergangenheit waren das unter anderem Orakel, Prophezeiungen und astrologische Deutungen. Aber diese Instrumente verloren in der von der Aufklärung geprägten modernen Welt an Legitimität.“ Wir haben uns also neue Instrumente der Imagination geschaffen, weil wir uns auf Orakel nicht mehr verlassen wollen. Diese Instrumente haben zwar nur wenig mehr Realitätsbezug; als aufgeklärte Menschen können wir aber an sie glauben.

Im Unterkapitel „Prognosen. Die Erschaffung der Gegenwart“ zeigt Beckert, dass sich klar belegen lässt, dass Prognosen vor allem eins sind: in der Regel falsch. Dennoch haben sie im Konzept der Kommunikation über eine ungewisse Zukunft eine wichtige ordnende und koordinative Bedeutung. Interessant!

Augenzwinkernd setzt sich Beckert auch mit dem Thema Wirtschaft auseinander („Wirtschaftstheorien: Kristallkugeln für die Berechnung der Gegenwart“). Anders als in der Physik, bei der es um wiederholbare Experimente geht, die durch Randbedingungen an Klarheit gewinnen, ist es bei allen Versuchen der Wirtschaftstheorien Beckerts Meinung nach möglich, alles zu beweisen, weil die Randbedingungen das Feld soweit einengen, dass die Theorie eben nichts mehr mit der komplexen Realität zu tun hat.

Auch Werkzeuge, die wir im Alltag benutzen, um wirtschaftliche Aspekte zu ordnen oder begreifbar zu machen, sind für Beckert Instrumente der Imagination: „Dazu zählen neben Prognosen und Wirtschaftstheorien auch Geschäftspläne, Buchführung, Strategien und Marketing.“

In Summe ist das Werk wegen der vielen Bezüge und Zitate nicht einfach zu lesen und damit keine leichte Kost, aber es sind schon wahre Schätze der Erkenntnis darin zu finden. Von mir gibt’s daher eine klare Leseempfehlung!

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Jens Beckert
Imaginierte Zukunft: Fiktionale Erwartungen und die Dynamik des Kapitalismus
Suhrkamp Verlag, 569 Seiten, 42,00 Euro
Kindle Ausgabe 36,99 Euro

Quelle: https://pixabay.com/de/stra%C3%9Fe-asphalt-himmel-wolken-220058/
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