Wert-los: warum es an der Zeit ist, unsere Wirtschaftstheorien in Frage zu stellen

18. September 2019

Die Frage, wie es um den Kapitalismus steht, beschäftigt viele Autoren und Bücher.  Die Ansicht, dass es mit ewigem Wachstum und dem Raubtier- Kapitalismus nicht weiter gehen kann und wir daran als Gesellschaft zugrunde gehen werden, ist schon fast Common Sense. – Egal ob bei Wolfgang Streeck (Gekaufte Zeit: Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus), Philip Staab (Falsche Versprechen: Wachstum im digitalen Kapitalismus) oder Jens Beckert (Imaginierte Zukunft: Fiktionale Erwartungen und die Dynamik des Kapitalismus).

Die meisten dieser Analysen sind erhellend, aber irgendwie fehlt es ihnen an einem greifbaren Vorschlag, was wir verändern können. Und genau hier wird Mariana Mazzucato in ihrem Buch Wie kommt der Wert in die Welt?: Von Schöpfern und Abschöpfern konkret.

Unsere Werttheorien und ihre historische Basis

Sie beginnt mit einem historischen Überblick, wie sich Wirtschaftstheorien über die Jahre entwickelt haben und auf Basis welcher politischen Interessen. Und sie führt uns vor Augen, welche Auswirkungen diese Wert-Ansätze tatsächlich auf unser Weltbild haben: Erst Ackerschollen als Wertspender, dann Marx mit seiner Arbeits-Wert-Theorie und schließlich die Neoklassik mit dem Grenznutzen als Gleichgewicht zwischen Käufer und Produzent.

Wichtig ist, zu verstehen, dass diese Theorien die Narrative bilden, auf denen unser gesamtes heutiges Werte-Gebäude beruht. Es ist ein Werte-Gebäude aus der Gedankenwelt der ersten technischen Revolution der Dampfmaschine, an dem wir keinerlei Anpassungen vorgenommen haben. Diese Grundlage blieb bestehen, obwohl die Massenproduktion (Ford), die Mikroelektronik (1970er Jahre) und die Digitalisierung (aktuell) unsere Produktionswelten und damit die Regeln komplett auf den Kopf stellen.

Warum wir die Narrative an unsere digitale Welt anpassen müssen

So basiert die neoklassische Werte-Theorie auf Annahmen wie perfekte Informationslage und Ressourcen-Knappheit, die in der digitalen Welt grundlegend nicht mehr passen. Und so bestimmt weiter der Preis den Wert und nicht der Wert den Preis.

Es ist Mariana Mazzucato wichtig, dass wir verstehen, dass wir dieses Konzept selbst erschaffen haben und es daher auch selbst ändern können.
In weiteren Abschnitten geht es um Entwicklungen, die aus dem Ruder gelaufen sind:

Unser Patentsystem dient nicht mehr der aktiven Distribution von Wissen und sorgt in diesem Kontext für eine gerechte Entlohnung eines Risikonehmers. Stattdessen ist es ein Blockade- und Schutzsystem für große Konzerne geworden.

Die Rolle des Staates

Der Staat hat ein viel zu schlechtes Image. Er übernimmt viele Risiken, wird dafür aber nicht nur nicht entlohnt; er muss sich darüber hinaus von vielen Bürgern für schlechte Prozesse und Behinderung von Innovation beschimpfen lassen.

Dabei hat das Kollektiv (also Gesellschaften, in denen wir leben) mit all seinen Möglichkeiten in der Regel den Großteil der Werte geschaffen, die wir häufig als unsere eignen ansehen. Es ist daher wichtig umzudenken: wir haben als Mensch immer nur einen Teil des Wertes im Gesamtsystem geschaffen; den größten Teil schafft das Kollektiv. Nur so konnten die Einkommensmillionäre der Internet-Wirtschaft ihre Unternehmen aufbauen.

Outsourcing schwächt den Staat, da er Risiken auf sich nimmt, aber in der Regel keine adäquate Leistung für seine Kosten erhält. Es werden nur noch Prozesse abgearbeitet und verwaltet, aber nicht mehr positiv für uns Menschen weiterentwickelt.

Das Finanzsystem schöpft aktiv Werte ab und setzt in seiner heutigen Form nicht auf Prozesse zur Wert-Entwicklung.

Aus diesen Aspekten lassen sich sehr konkrete Handlungsmuster ableiten, wenn wir uns auf die Ideen einlassen. Damit gibt uns Mariana Mazzucato einen wichtigen Impuls, der über eine Bestandserfassung hinausgeht.

Mehr-Wert im öffentlichen Raum

Ihren Schlussgedanken finde ich bemerkenswert: Wir haben aktuell keine großen Staatslenker mehr. Der Staat ist einfach ein Verwalter, den wir möglichst weit zurückdrängen wollen. Dabei ist es die Aufgabe des Staates, groß zu denken und eine Nation zu führen, wie dies zum Beispiel Kennedy mit der Mondmission getan hat.

Ihre Idee ist, dass wir uns mehr über den kollektiven Wert bewusst sind, den der Staat und wir als Gesellschaft für uns alle schaffen und dessen wir uns jeden Tag bedienen. Durch einen gemeinsamen Narrativ können wir diesen Wert des öffentlichen Raums für uns alle vergrößern.

Wir leben heute in einer vom Preis geführten Welt. Wir bestimmen den Wert einer Sache nicht mehr über den wahren Wert oder die Produktion (Neoklassik). Dennoch wenden wir das System der Neoklassik ansonsten seit über mehr als zwei Jahrhunderte noch nahezu unverändert an, obwohl dessen Annahmen heute in vielen Bereichen sicherlich nicht mehr gelten. (Etwa durch Digitalisierung, digitale Plattformen und As a Service Geschäftsmodelle.)

Wir haben es so weit kommen lassen, dass nicht die Werttheorie den Preis, sondern die Preistheorie den Wert bestimmt. Das sollten wir gemeinsam angehen und ändern!

Weitere Lese-Empfehlungen zu den Themenbereichen Digitale Transformation und Entrepreneurship gibt es hier auf meinem Blog oder direkt bei Amazon.

Mariana Mazzucato
Wie kommt der Wert in die Welt?: Von Schöpfern und Abschöpfern
Campus Verlag, 408 Seiten, 26,00 Euro
Kindle Ausgabe 21,99 Euro

Quelle: https://pixabay.com/de/photos/geld-münzen-währung-kasse-dollar-932401/
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